Potsdamer Konferenz - Hauptreferate

Steffen Reiche

Chancengleichheit - Leitbegriff für die deutsche und die europäische Gesellschaft im 21. Jahrhundert

Liebe Freundinnen und Freunde, sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich, dass eine so illustre Runde hier zusammengekommen ist. Herzliche Grüße vom Ministerpräsidenten an Sie alle. Ich freue mich, dass Sie heute alle hierher gekommen sind, wo Berlin am schönsten ist, denn dort, wo Berlin am schönsten ist, da heißt es Potsdam.

Sehr geehrte Damen und Herren: Die Würfel sind gefallen. Verwundert mögen Sie feststellen, dass das ein seltsamer Anfang für einen Vortrag über Chancengleichheit als Leitbild für Politik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert ist. Aber wenn man einen Vortrag halten will, dann muss einem noch einmal zu allererst alles fremd werden, um dann besser zu verstehen. Der Begriff "Gleichheit", das ist ja klar: Liberté, Egalité, Fraternité zumindest nach der französischen Revolution.

Aber "Chance", wo kommt dieses fremde Wort her? Im "Kluge" von 1949, dem etymologischen Wörterbuch, steht Chance überraschenderweise zwischen Champignon und Chaos. Wie hilfreich. Aber es steht dann dort nur "siehe Schanze", wie Vierschanzentournee geschrieben. Unser Wort "Chance" als Möglichkeit, als Gelegenheit, als Aussicht verstanden kennt man also 1949 vermutlich noch gar nicht.

Man denkt zu dieser Zeit viel eher an ein Glücksspiel: "In die Schanze schlagen" wird adäquat gebraucht zu "aufs Spiel setzen". Man denkt eben nicht an "die Chance ergreifen", also sozusagen aktiv das Ergebnis der Würfel beeinflussen. Denn Chancengleichheit zu bieten gibt ja nur Sinn, wenn Menschen diese Chance ergreifen wollen, ihr Glück also selber machen wollen, ihres Glückes Schmied sein wollen.

Das Reden von Chancengleichheit heißt, dass Menschen eben dies können und wollen. Ein neuer Begriff also. Ein neuer Begriff "Chancengleichheit" aus der Nachkriegszeit, der zeigt, dass die verschiedenen Daten, die diesem Vortrag als Leitthema vorangestellt worden sind, synonym dafür stehen, dass hier in diesen 50 Jahren wirklich etwas Neues gewachsen ist. Denn wäre nichts Neues geworden, dann hätte man keinen neuen Begriff finden müssen.

Der Begriff "Chancengleichheit" erscheint in Asien oder in Afrika wie westlicher Luxus. Wenn an anderer Stelle nicht einmal rechtliche Gleichheit oder eine gesicherte Lebensperspektive bestehen, dann wird man schlicht nicht verstehen, was es heißt, Chancengleichheit zu sichern.

Wenn von Horstkemper gesagt wird, dass die Inkarnation der Bildungsbenachteiligung, das katholische Arbeitermädchen vom Lande, in diesen 50 Jahren zur Hauptgewinnerin geworden ist, dann heißt das im Vergleich zu anderen, es hat in keinem Bereich einen ähnlichen Sprung nach vorn gegeben, wie in diesem.

Und das zeigt der außerordentlich umfangreiche Aufsatz sehr viel differenzierter, als ich Ihnen das jetzt hier in einer halben Stunde darlegen kann. Damit ist ja nicht gesagt, dass diese Hauptgewinnerin die Männer an allen Stellen verdrängt hat, das wäre zu kurz gehalten. Also liegt die Frage nahe, wie hört man diesen Begriff "Chancengleichheit" heute an anderen Stellen der Erde?

Ich denke er erscheint zum Beispiel in Asien oder in Afrika wie westlicher Luxus. Wenn an anderer Stelle nicht einmal rechtliche Gleichheit oder eine gesicherte Lebensperspektive bestehen, dann wird man schlicht nicht verstehen, was es heißt, Chancengleichheit zu sichern. Da hat es nicht nur in Europa einen Fortschritt gegeben, sondern da ist der Abstand der Entwicklung von verschiedenen Teilen der Erde wohl größer geworden.

Die Sensibilität für Gleichheit wächst mit dem Grad der erreichten Annäherung. Das heißt es gibt einen großen Druck, mit jedem Fortschritt noch mehr Schritte zur Chancengleichheit zu unternehmen, weil eben mit dem Schwinden des Abstandes der Skandal des Unterschiedes stärker empfunden wird. Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum die Akzeptanz für die PDS bei Wahlen steigt, obwohl die Unterschiede geringer werden zwischen Deutschen in Ost und West.

Um so mehr Selbstverständlichkeit das unglaubliche Tempo der Annäherung zwischen Ost und West gewinnt - und falls jemand an der Stelle wie eben protestieren will, verweise ich nur auf Polen, Tschechien, Ungarn und andere und deren Schwierigkeiten mit dem Annäherungsprozess -, um so mehr glauben manche, dass Politik machen heißt, sich etwas zu wünschen und dass der Staat, dem man misstraut, das schon richten kann.

Ein neuer Begriff also als Leitbegriff für das neue Jahrhundert, das fragt bzw. das unterstellt das Thema für diesen Vortrag. Ein Begriff, der übrigens, das wissen wohl alle, einen Teil einer Utopie darstellt, ein Ziel, dem man sich ununterbrochen annähern kann und will, ohne es zu erreichen. Den Ort, an dem völlige Chancengleichheit erreicht wäre, gibt es nicht, es ist ein Utopos.

Und dennoch gibt es Fortschritt, der sich von dem des Sisyphos unterscheidet. Klaus Klemm beendete im März diesen Jahres einen Vortrag in Krefeld über Chancengleichheit und Chancenungleichheit - "Wohin steuern wir!" - so hieß dieser Vortrag, mit einem Hinweis auf den Mythos von Sisyphos.

Die Mühen der Annäherung an Chancengleichheit in der und durch die Schule seien vergleichbar der Arbeit des Sisyphos. Ich bin, was die vollständige Herstellung von Chancengleichheit betrifft, bestimmt skeptischer als Klemm, vielleicht auch skeptischer als die meisten hier im Saal. Aber an dieser Stelle muss ich Klemm und damit auch zugleich Albert Camus leidenschaftlich widersprechen: Ich kann mir diesen Sisyphos nicht als einen glücklichen Menschen vorstellen, sondern nur als einen Idioten, einen krankhaft eigensinnigen Menschen.

Ich verstehe den Sisyphos, vor dem ich Achtung habe und den ich liebe und der wohl wirklich ein glücklicher Mensch ist, anders als Klemm und als Camus. Mein Freund Sisyphos wälzt die Kugel Chancengleichheit auch auf den Gipfel, aber die Kugel rollt dann eben nicht zurück an den Punkt, von dem aus sie nach oben gerollt worden ist, sondern sie rollt dann in ein anderes Tal.

Was ja auch viel natürlicher ist, dass wenn man die Kugel auf den Berg gerollt hat, sie nicht wieder zurückrollt, sondern in das andere Tal. In ein anderes Tal, das höher liegt als das, aus dem sie zuerst nach oben gerollt ist, und von dort wälzt er die Kugel dann auf einen neuen, gar höheren Gipfel und sie rollt dann wieder in ein neues, gar höher gelegenes Tal.

Denn jeder erreichte Gipfel, jeder erreichte Fortschritt macht neue Täler und macht neue Abgründe deutlich. Das heißt um so höher wir mit der Chancengleichheit hinauskommen, um so höher sind die Gipfel, die uns erreichbar scheinen und an die man sich dann natürlich auch tatsächlich machen muss.

Ich sage das nicht, um des Deutschen liebste und sehr gefährliche Extremsportart hier zu propagieren, nämlich das Jammern auf höchstem Gipfelniveau, sondern im Gegenteil, um Verständnis zu wecken für das, was erreicht worden ist, uns also stolz zu machen - nicht, um uns zu beruhigen und um dann zum Augenblick zu sagen: "Verweile doch, du bist so schön". Sondern ich sage es, damit wir unseren Kampf für mehr Chancengleichheit nicht mit einer ewigen Leichenbittermiene machen, sondern mit mehr Freude, mit mehr Stolz auf das schon Erreichte, in diesem Sinne dann als glückliche Menschen.

Durch die friedliche Revolution, die eher eine friedliche Implosion war, sind im Grunde nur die Voraussetzungen für Chancengleichheit wiederhergestellt worden, die 1961 vermauert worden waren.

Chancengleichheit steht jetzt also klarer und deutlicher vor uns und wir sehen, die Würfel sind nicht gefallen, sondern werden immer wieder neu geworfen. Darauf, auf diesem Immer-wieder-neu-die-Würfel-werfen-Können, liegt der Akzent von Chancengleichheit. Wo kommen wir her, wo gehen wir hin? Das Millennium steht vor uns, und im neuen Jahrhundert, da bin ich ganz sicher und stimme den Veranstaltern zu, im neuen Jahrhundert wird Chancengleichheit ein zentraler Leitbegriff sein, Orientierung für die Gesellschaft in Deutschland und Europa. Deshalb ist die Frage berechtigt und notwendig, worauf können wir, wenn dies ein so zentraler Leitbegriff sein wird, aufbauen? In den letzten Tagen ist viel von der friedlichen Revolution gesprochen worden.

Ich bin da immer sehr misstrauisch, weil das immer so klingt wie: "Ihr hattet eure Revolution, nun beruhigt euch und verändert nicht so viel, wir brauchen jetzt nicht mehr so viel Veränderung". Ich glaube, dass es viel eher eine friedliche Implosion war, denn eine Revolution hätte etwas wirklich Neues geschaffen.

So aber sind im Grunde nur die Voraussetzungen für Chancengleichheit wiederhergestellt worden, die 1961 vermauert worden waren. Aber es hat Revolutionen gegeben, in diesem zu Ende gehenden Jahrtausend: Die europäischen Revolutionen, die wirklich etwas völlig Neues geschaffen haben, die Revolution in Italien im 11. Jahrhundert, die Reformation, die Glorios Revolution, die französische und die russische Revolution.

Diese Revolutionen zusammen haben gemeinsam eine Biographie des westlichen Menschen geformt, eine "Biography of the Western Man" wie ein Buch von dem viel zu wenig bekannten Vater des Kreisauer Kreises, von Eugen Rosenstock-Huessy, heißt. Rosenstock-Huessy analysiert die europäische Geschichte als eine Entwicklung eines neuen Geistes, der mit dem Weltkrieg und nun mit der Globalisierung das Leben auf dem Globus in eine so noch nie da gewesene, alles erfassende Veränderung hineingerissen hat.

Globalisierung ist bei vielen mit negativen Assoziationen und Affekten behaftet. Vor allem deswegen, weil eine neoliberale Politik Veränderungen und das Schleifen erreichter gesellschaftlicher Zustände und Standards immer wieder mit der Globalisierung erklärt. So nach der Melodie: "Ihr müsst das jetzt schlucken, weil wir haben Globalisierung". Das heißt um persönliche oder schichtspezifische Veränderung zu erreichen, nimmt sie die Globalisierung als Vorwand.

Auf diese Weise bleibt uns oft verborgen, dass bei allen negativen Effekten die Globalisierung die mächtigste Bewegung zur Herstellung von Chancengleichheit ist. Denn die Globalisierung ist keine Erfindung des Kapitals, sondern eine in die vom Westen geprägten Entwicklungen der Gesellschaft eingestiftete Dynamik.

Im 15. Jahrhundert glaubte man ja zum Beispiel, die Völker im Süden Amerikas nicht taufen zu dürfen, weil man meinte, hier keine Menschen vor sich zu haben. Das Menschenbild, das sich von der jüdischen, der griechischen und der römischen Antike geprägt ausbreitete, machte sich aber in diesem Jahrtausend die Erde untertan, eroberte unfriedlich und friedlich die Erde und führte zur Menschenrechtsdeklaration, ein Fortschritt, den man, wie wir seit Auschwitz wissen, zwar pervertieren kann, hinter den wir aber niemals wieder zurückkehren können.

Das ist unvergesslicher unüberwindbarer Teil der menschlichen Geschichte geworden. Und diese Geschichte schreitet, durch die Globalisierung gezwungen, mit vielen Ab- und Nebenwegen fort. Und wo etwas fortschreitet, ergibt das einen ausweisbaren Fortschritt. Wie man an dem großen Schuldenerlass der reichen Länder zum Millennium sieht, es tut sich manches. Der Fortschritt ist eine Schnecke aber immerhin, die Aufgaben zur Entwicklung von Chancengleichheit kosten eben jetzt schon Geld, was zur graduellen Verbesserung der Chancengleichheit bei uns spürbar fehlt.

Doch ich finde, wir sollten das in Kauf nehmen, denn oft erreicht man in armen Ländern mit einem Teil des Geldes mehr an Verbesserung von Chancen, als bei uns. Und deshalb übrigens war mir die Distanz und die Skepsis der Grünen und auch mancher Sozialdemokraten im Prozess der deutschen Einheit immer suspekt und verdächtig, die nämlich aus Angst um ökologische oder soziale Standards im Westen für 63 Millionen Menschen oder für 367 000 Quadratkilometer lieber noch eine Weile länger eine Mauer gehabt hätten.

Chancengleichheit zu organisieren heißt, auf der nationalen und der regionalen Ebene immer auch auf kurzfristige Gewinnmaximierung zu verzichten, um sich langfristig auf diese Weise in eine Win-Win-Situation hineinzubegeben.

Der Veranstalter hat vier Jahreszahlen genannt, die hier für die Entwicklung von Chancengleichheit große Bedeutung haben: 1949, 1969, 1989 und 1999. Er macht dann drei Punkte. Der aufmerksame Beobachter fragt sich dann natürlich, was denn 1999 für eine Bedeutung hat in dieser Reihenfolge, außer dass es eben der Zeitpunkt des Betrachters ist. Und selbst wenn man die Bedeutung dieses Potsdamer Kongresses hoch einschätzt, gibt das vermutlich allein noch nicht den Grund her, dass dort 1999 steht.

Nein, 1999 ist neben der vollzogenen Erweiterung der NATO auch beschlossen worden, dass zur Erweiterung der Europäischen Union die Erweiterungsfähigkeit, also sozusagen der Eigenanspruch, die Voraussetzung bei der Europäischen Union für die Erweiterung, bis zum Jahr 2002 gesichert werden muss. Das ist die Voraussetzung zur Chancengleichheit für mindestens drei, vielleicht gar sechs weitere Staaten in Europa, die 2003 oder 2004 beitreten sollen und wollen, ist 1999 beschlossen worden.

Das stellt einen signifikanten Einschnitt dar und verweist auf jenes 2003 oder 2004, das diese drei Punkte erklären oder zumindest deuten könnte. Das heißt dort, wo europaweit ein Markt, eine Währung, ein zunehmend gleichmäßig ausdifferenzierter Rechtsraum steht, da werden die Menschen, da werden die Völker, da werden die Staaten dann auch immer lauter sagen: "So weit, so gut, aber jetzt wollen wir auch, dass Chancengleichheit für die Menschen, für die Staaten, entwickelt wird.

Helft uns also, eine vergleichbare Infrastruktur zu entwickeln, gebt uns über Kooperation die Möglichkeit, in eure Netzwerke hineinzukommen, lasst unsere Jugend bei euch studieren und besucht uns als Touristen und als Geschäftspartner." Chancengleichheit zu organisieren heißt also, auf der nationalen und der regionalen Ebene immer auch auf kurzfristige Gewinnmaximierung zu verzichten, um sich langfristig auf diese Weise in eine Win-Win-Situation hineinzubegeben.

Chancengleichheit wird also in den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts eines der zentralen Paradigmen für die Nachhaltigkeit von Entwicklung sein. Eine nachhaltige Entwicklung zu sichern hat immer zur Voraussetzung, dass man Chancengleichheit organisiert. Zum Beispiel Chancengleichheit der heutigen und der künftigen Generation.

Wenn wir Heutigen die Sozialsysteme kaputtgehen lassen, weil wir sie nicht reformieren, und wenn wir die Umwelt so belasten, dass künftigen Generationen eben nur noch die Beseitigung der Schäden und nur eine reduzierte Artendiversität bleibt, und wenn unsere Kinder entweder nur noch Zins und Tilgung bezahlen können und damit jeglichen Spielraum in der Politik verloren haben oder eben eine Währungsreform, einen totalen Währungsschnitt, machen müssten, um aus der Schuldenfalle herauszukommen, dann gibt es keine Chancengleichheit zwischen den Generationen und damit auch keine nachhaltige Entwicklung.

Auch, und das sei ganz deutlich gesagt, auch mit nachhaltiger Entwicklung gelangen wir nicht ins Paradies und errichten keine Utopie ohne Krisen. Aber wir reduzieren Ursachen für mögliche, von Menschen verursachte Katastrophenszenarien.

Bliebe ich hier mit dem Vortrag stehen, dann würde man mir zu Recht Europa-Zentriertheit vorwerfen. Wenn in zwanzig oder in dreißig Jahren die UNO und GATT ein Stück weiter sind auf dem Weg zu einer fairen Weltwirtschaft, dann wird auch die Frage der Chancengleichheit als globale Frage zum Glück nicht mehr aufzuhalten sein. Chancengleichheit für Irish Setter und Neufundländer zu organisieren, das wäre eine absurde Forderung.

Aber keine Chancengleichheit für Menschen, die laut UN-Charta dieselben Rechte haben, ist nicht nur noch absurder, sondern vor allem ein völlig unerträglicher Zustand. Und das Kind eines Arbeitslosen aus Kyritz an der Knatter hat eben nicht die gleichen Chancen wie das Kind eines Arbeitslosen aus Bombay, aus Grosny oder aus Kinshasa, sondern unendlich viel mehr.

Keine einzige Chance, das sei ganz deutlich gesagt, darf dem Kind eines Arbeitslosen aus Kyritz an der Knatter genommen werden, aber wenn denn Chancengleichheit ein Leitbegriff für das 21. Jahrhundert ist, dann muss uns unerträglich werden, dass das gleichberechtigte Kind aus Bombay, aus Grosny oder aus Kinshasa eben im Vergleich zu dem Kind aus Kyritz keine Chancen hat.

Und deshalb freue ich mich mit genau derselben Freude wie über den "global market" und die Globalisierung über das Internet. Denn beide sind Geister, die wir im Westen gerufen haben und nun nicht wieder loswerden. Sie haben uns ergriffen und, nachdem der Markt in den Nationalstaaten überall vergleichbare Lebensweisen geschaffen hat, werden der "global market" und das Internet alle Widerstände überwinden, die sich gegen vergleichbare Lebensbedingungen auf der ganzen Erde stellen.

Ich weiß, es wird viele Umwege, viele Konflikte und Irrwege auf diesem Weg geben. Aber niemand darf glauben, dass die fast 200 Millionen Menschen auf der Erde, die im Netz schon jetzt miteinander verkehren und im Chat miteinander reden, auf Dauer von diesen Ergebnissen ausgegrenzt werden können.

"Wenn Chancengleichheit ein Leitbegriff für das 21. Jahrhundert ist, dann muss uns unerträglich werden, das das gleichberechtigte Kind aus Bombay, aus Grosny oder Kinshasa eben im Vergleich zu dem Kind aus Kyritz keine Chancen hat."

Und so, wie das Hirn mit seinen Milliarden Verschaltungen eine ganz neue Wirklichkeit geschaffen hat, so wird das Internet mit seinen bald Milliarden Verschaltungen und gleichberechtigten Nutzern ein unüberwindbaren und unwiderstehlichen Druck auf Chancengleichheit ausüben. Ich glaube, wir haben den point of no return schon längst überschritten, von dem aus man anderen, nach UN-Charta gleichberechtigten Menschen Chancengleichheit auf Dauer vorenthalten kann.

Sicher, ich werde es nicht mehr miterleben, dass Chancengleichheit in diesem Sinne auf der globalen Agenda steht, aber das ist der Horizont, unter dem wir die Diskussion über diesen Leitbegriff schon jetzt führen müssen. Bulwer-Litten schrieb 1853: "Was die fortschreitende Aufklärung bisher geleistet hat, das wird sie immer tun. Es scheint mit dem Wissen wie mit dem Kapital zu sein: je mehr davon in einem Lande vorhanden ist, desto größer die Ungleichheit des Besitzes zwischen einem Menschen und dem anderen."

Kurzum, wenn auch die arbeitende Klasse ständig an Wissen zunimmt, die anderen tun dasselbe. Aus diesem Grunde wäre es meiner Meinung nach für eine nachhaltige Entwicklung besser, wenn wir mehr in die Gleichmäßigkeit der Entwicklungsgeschwindigkeiten investieren würden, damit die Schere eben nicht immer weiter aufgeht.

Die Investitionen in die Verbesserung der Lage der Unterprivilegierten sind oft marginal, aber von großer Wirkung im Vergleich zu riesigen Investitionen, die nötig sind, um die Lage der Hochprivilegierten im globalen Vergleich graduell zu verbessern. Ich sage das, damit wir beides im Auge behalten, wohl wissend, dass ich als Minister im Land Brandenburg bei Strafe des Amtsverlustes gehalten bin, die Lage der im globalen Maßstab Hochprivilegierten Stück um Stück zu verbessern. Ich sage das also, um ganzheitliches Denken und Sehen bei uns gemeinsam zu befördern.

Ich komme zum dritten und damit letzten Punkt meiner Rede auf diesem Potsdamer Kongress zur Bildungs- und Geschlechterpolitik. Was wird die zentrale Aufgabe in Zusammenhang mit der Frage nach der Chancengleichheit im 21. Jahrhundert sein? Wir befinden uns, wie wir alle wissen, mitten im Übergang von der Industrie- zur Wissens- und Informationsgesellschaft.

In den USA wird mit viel größerem Tempo als bei uns in Europa, und in Schweden mit viel größerem Tempo als bei uns in Deutschland, die Antwort auf die Frage, was die Industriegesellschaft bezwungen hat, gegeben. Chancengleichheit aber, die zentrale Frage in der Wissens- und Informationsgesellschaft, entscheidet sich in Zukunft mehr als je zuvor über die Bildung. "Netuser or notuser" - Teilhabe in Zukunft entscheidet sich mehr als je zuvor über Bildung.

Und wer Teilhabe ermöglichen will, muss vergleichbare Bildung für alle ermöglichen. Bildung ist das Megathema der Gegenwart und weil so vieles noch im Argen liegt, obwohl wir eigentlich ja gut vorangekommen sind, wird immer häufiger vom Meckerthema der Gegenwart geredet.

Bildung muss als Einladung zum lebenslangen Lernen praktiziert werden, muss Einübung in solches lebenslanges Lernen sein. Ich will hier nicht die altbekannten Platten auflegen, sondern nur auf eines hinweisen: Bei den bildungsnahen Schichten bzw. Gruppen gelingt das schon und sie perpetuieren ihren Startvorteil auf diese Weise lebenslang.

Es sollte, denke ich, eine wichtige Fragestellung für uns werden, wie wir mithelfen können, dass in der vom Staat organisierten Bildungsphase gerade bei Kindern aus bildungsfernen Schichten diese Einladung zum lebenslangen Lernen auch ankommt, diese Fähigkeit entwickelt wird. Damit nicht mit dem ersten Lernen die Lernfrustration wächst und damit der Zugang zum lebenslangen Lernen mit schlechten Erfahrungen wie der Zugang zum Paradies mit Schwerter tragenden Engeln auf alle Zeit verbarrikadiert wird.

Das katholische Arbeitermädchen vom Lande ist heute, zumindest teilweise, Hochschulprofessorin, Schichtleiterin, sitzt im Vorstand. Aber das kurdische Mädchen aus geschiedenen Verhältnissen an der Hauptschule im Wedding, das ist an seine Stelle getreten. Und ihm eine Bildung zu geben, dass es stolz erhobenen Hauptes den Weg der Türkei in die Europäische Union begleitet, das ist eine wichtige Aufgabe, um Chancengleichheit zu organisieren.

Aufbau von Chancengleichheit und Abbau von Chancenungleichheit sind nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Der Aufbau von Chancengleichheit ist die schwierige Aufgabe, aber der Abbau von Chancenungleichheit ist die größere und drängendere. Ich wünsche der Tagung alles Gute und dass wir gemeinsam mithelfen können, Chancengleichheit als Leitbegriff für die Politik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert zu etablieren. Vielen Dank.


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Einführung/Kongressleitung
- Holger Lührig

Plenum, 11. November 1999
- Tilo Braune
- Christine Bergmann
- Steffen Reiche
- Prof. Dr. Rolf Kreibich

Plenum, 12.November 1999
- Wolf-Michael Catenhusen
- Gabriele Behler