Gabriele Behler
Potsdamer Konferenz - Hauptreferate

Gabriele Behler

Chancengleichheit als Auftrag für Schule, Weiterbildung, Hochschule und Forschung

"Soziale Gerechtigkeit" ist wieder in der politischen Diskussion. Zu ihr gehört untrennbar die Chancengleichheit. Neu sind die Begriffe freilich nicht: Soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit sind in der Programmatik der Sozialdemokratischen Partei und in der Bildungspolitik vieler Länder immer aktuell geblieben. Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit gelten als Postulate und Ziele einer demokratischen Gesellschaft nach wie vor. Auch im Bildungssystem. Vielleicht hatten sich in den vergangenen Jahren andere Begriffe, spektakuläre Ereignisse wie die Veröffentlichung der TIMSS-Studie und schulische Innovationsmaßnahmen davor geschoben.

Vielleicht haben manche deshalb den Eindruck gewonnen, das Thema sei in vielen Ländern im Zuge weitreichender Modernisierungsmaßnahmen ausgemustert worden. Weit gefehlt! Deshalb freue ich mich sehr, dass ich heute zu diesem Thema sprechen kann. Und ich freue mich, dass die "Gesellschaft Chancengleichheit" das unerledigte Thema zum Gegenstand eines Diskurses macht, der hoffentlich Auswirkungen hat auf die Diskussion in den großen Zeitungen, auf die programmatische Auseinandersetzung in den Parteien und auf die konkrete Politik der Regierungen.

Ich erspare es Ihnen und mir, sozusagen flächendeckend vom ersten Schultag bis zum Ende des Seniorenstudiums alle Aspekte des Bildungssystems unter dem Stichwort Chancengleichheit zu behandeln. Ich werde stattdessen einen deutlichen Schwerpunkt im Schulbereich setzen. Ich werde auch nicht den Begriff der Chancengleichheit aus der Philosophie der Aufklärung ableiten und ihn in den Grundrechtskatalogen der westlichen Demokratien verorten. Schließlich hat Steffen Reiche gestern den Einführungsvortrag gehalten - und ich nehme an, er hat alles Notwendige gesagt.

Es geht bei der Forderung nach Chancengleichheit mehr um die bestmögliche Ausstattung jedes Einzelnen. Aber nicht im neoliberalen Sinne von: "Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht".

Mein Vortrag gliedert sich wie folgt: Ich möchte zunächst die These aufstellen, dass der Begriff der Chancengleichheit einen Bedeutungswandel erfahren hat. In einem zweiten Schritt werde ich die Ausgangslage und die Erfolge der Bildungsreform der 60er und 70er Jahre skizzieren, um mich dann mit dem Unerreichten und Unerledigten bei den Bemühungen um mehr Chancengleichheit befassen. Dabei ist natürlich eine Frage zentral: Wenn nämlich das Ziel Chancengleichheit/soziale Gerechtigkeit im Bildungswesen auf der Agenda bleibt - und daran gibt es für mich überhaupt keinen Zweifel -, dann ist zu fragen, mit welchen Ideen, Maßnahmen und Projekten wir das deutlich besser als bisher erreichen können.

Zunächst ein kurzer Blick zurück in die Geschichte: Die Forderung nach Chancengleichheit im Bildungswesen war in den Anfängen der Arbeiterbewegung ein zentrales Instrument, über den die Befreiung und der Aufstieg der ganzen sozialen Gruppe angestrebt wurden. Heute hat sich die Blickrichtung von der sozialen Klasse hin zum Individuum verschoben. Es geht jetzt bei der Forderung nach Chancengleichheit mehr um die bestmögliche Ausstattung jedes Einzelnen.

Aber nicht im neoliberalen Sinne von: "Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht." Blickt man auf die Programme der Sozialdemokratischen Partei zurück, dann zeigt sich der Wandel vom Aufstieg der Klasse hin zum Weg des Individuums sinnfällig. Die alte Sozialdemokratie war im schönsten Sinne des Wortes hungrig auf Bildung. Davon ist hoffentlich noch viel geblieben.

In "Volkserziehung und Sozialdemokratie" von 1906 ist vom Lohnsklaven und rechtlosen Proletarier die Rede und vom brennenden Wunsch, alle geistigen und körperlichen Fähigkeiten zu entwickeln. 1925 heißt es im Heidelberger Programm: "Die Sozialdemokratische Partei erstrebt die Aufhebung des Bildungsprivilegs der Besitzenden." Und auch im Godesberger Programm von 1959 heißt es: "Alle Vorrechte im Zugang zu Bildungseinrichtungen müssen beseitigt werden."

Die Bestandsaufnahmen und die Forderungen der alten Parteiprogramme waren richtig: Klassengesellschaft und Bildungsprivileg mussten überwunden werden. Immer schon hat die Sozialdemokratische Partei eine Politik verfolgt, die auf die Teilhabe möglichst vieler setzt.

Immer war man sich programmatisch sicher, dass nur der, der über materielle und soziale Sicherung verfügt - damit ist untrennbar eine gute Bildung verbunden -, über die Möglichkeit der Teilhabe in vollem Umfang verfügt. Eine Teilhabegesellschaft muss am Prinzip der Gerechtigkeit orientiert sein. Gesellschaftlicher Konsens über die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Sicherung von Chancengleichheit und vor allem Zusammenhalt sind Grundelemente einer modernen Teilhabegesellschaft.

Im Hinblick auf die genannten Ziele aus den historischen Programmen der Sozialdemokratie haben wir viel erreicht. Das Bildungswesen ist in den 60er und 70er Jahren in einer vorher kaum vorstellbaren Weise expandiert. Die Technokraten haben es "Ausschöpfen der Begabungsreserven" genannt, die politisch motivierten Reformer hatten den Aufstieg der Arbeiterkinder zu höheren Bildungsabschlüssen im Sinn.

Wir haben aber im Rausch der bildungspolitischen Erfolge einen Irrglauben mit uns weitergeschleppt, nämlich den Glauben an die Steuerbarkeit der ganzen Gesellschaft. Das Bildungssystem war das beliebteste Spielfeld für die omnipotente Vorstellung, alles sei zentral zu planen und durch Planung im Kern zu verändern. "Flächendeckend" war dabei eine wichtige Vokabel sozialdemokratischer Beglückungsphilosophie.

Jede neue Idee - und es gab eine Menge in der Schulpolitik - sollte allen Menschen in allen Landstrichen gleichermaßen zugute kommen. Ich gebe Jan Ross Recht, wenn er in der ZEIT schreibt: "Soziale Gerechtigkeit heißt nicht mehr masterplanhafte Umgestaltung der herrschenden Verhältnisse, sondern bestmögliche Ausrüstung jedes Einzelnen, so dass er sich in Verhältnissen behaupten kann, die insgesamt schwer zu ändern sind."

Eine Teilhabegesellschaft muss am Prinzip der Gerechtigkeit orientiert sein. Gesellschaftlicher Konsens über die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Sicherung von Chancengleichheit und vor allem Zusammenhalt sind Grundelemente einer modernen Teilhabegesellschaft.

Bricht man das auf den Bildungsbereich runter, dann geht es heute auch nach meiner Auffassung nicht mehr darum, ganze Klassen, Schichten und soziale Gruppen allumfassend nach vorn zu bringen. Vielmehr müssen wir gerade im Bildungsbereich bei den individuellen Lebenschancen für Gleichheit sorgen, die als Ziel gesellschaftlicher Umverteilung trotz immer währender Beschwörung nicht Wirklichkeit geworden ist.

Ich halte das nicht für "unsozialdemokratisch". Wir haben uns in der Schulpolitik die Stärkung der Einzelschule zum Ziel gesetzt. Was die Schülerinnen und Schüler betrifft, geht es für mich um die Stärkung und bestmögliche Ausstattung jedes Einzelnen. Das heißt konkret: Kevin und Cem haben Probleme im Diktat. Ihnen muss geholfen werden. Ayse, Christopher und Sabrina kommen im Rechnen nicht mit.

Sie müssen zusätzlichen Förderunterricht erhalten. In den Familien von Tanja, Jochen und Achmed gibt es keine Bücher. Da muss die Schule mit der Stadtbücherei kooperieren und die Liebe zur Literatur wecken.

Wir haben in den letzten 30 Jahren eine Menge erreicht. Darüber sollten uns auch die sicher berechtigten Klagen über die noch bestehenden Ungerechtigkeiten nicht hinweg täuschen. Die Erfolge der Bildungsreform der 60er und 70er Jahre sind hier im Saal hinlänglich bekannt: Ausbau des Bildungswesens, höhere Bildungsbeteiligung, weitaus mehr höhere Bildungsabschlüsse, ein höheres schulisches Qualifikationsniveau für viele. Auch wenn die Quoten von Arbeiterkindern bei Abitur und Studium noch erheblich verbesserungsbedürftig sind, so dürfen wir uns doch an der hohen Quote der Abiturienten und Studenten insgesamt freuen.

Zu meiner großen Freude zählen auch die Mädchen zu den absoluten Gewinnern der Bildungsreform. Dass Mädchen heute im Gymnasium leicht überrepräsentiert sind, hat übrigens im nordrhein-westfälischen Landtag zu der erschrockenen Anfrage geführt, ob Mädchen denn intelligenter seien. Auch wenn manche hier im Saal jetzt zustimmend nicken möchten - so haben wir doch, wissenschaftlich korrekt, eine genetische Besserausstattung der Mädchen weit von uns gewiesen.

Bedarf an kompensatorischen Programmen für Jungen haben wir aber auch nicht sehen können. Ich verweise noch einmal auf diese Erfolge, weil sie im typisch deutschen und auch typisch sozialdemokratischen Lamento über die Misserfolge oft untergehen. Wir haben das Recht, auf diese Erfolge stolz zu sein. Übrigens: Wenn wir uns darüber freuen, sollten wir aber nicht so tun, als sei das allein der Generosität der Bildungspolitik und der pädagogischen Reformer geschuldet. Hinter den vielen erfolgreichen Abschlüssen stecken Fleiß und Anstrengung unserer Schülerinnen und Schüler.

Aber natürlich gibt es auch Probleme: Wir müssen feststellen, dass Chancengleichheit längst nicht überall in unserem Bildungssystem gegeben ist. Nach wie vor schneiden Arbeiterkinder schlecht ab beim Besuch des Gymnasiums; die soziale Ungleichverteilung scheint sich fortgeschrieben zu haben. Die Migrantenkinder haben die Rolle des "katholischen Arbeitermädchens aus dem Bayerischen Wald" eingenommen, also der Kunstfigur, mit der man in den 60er Jahren die schlechtesten Bildungschancen beschrieb.

Darüber hinaus gilt: Noch immer haben es Kinder und Jugendliche, die in Armut oder in prekären Lebenslagen aufwachsen, sehr viel schwerer als ihre Altersgenossen. Besonders schwer haben es Kinder mit einer anderen ethnischen Herkunft dann, wenn zusätzlich das Einkommen der Eltern am unteren Ende rangiert.

Diese Bedingungen potenzieren sich noch, wenn Bildungsferne hinzu kommt, d.h. Eltern ohne Schulabschluss, ohne Berufsausbildung, ohne Bücher im Haushalt. Immer noch haben wir in Deutschland und auch innerhalb der einzelnen Bundesländer erhebliche regionale Unterschiede bei der Verteilung von schulischen Chancen.

So liegt beispielsweise im Landkreis München die Hauptschulquote bei 20 %, im bayerischen Landkreis Freyung-Grafenau bei 57 %. Auch in Nordrhein-Westfalen gibt es starke Unterschiede: Die Gymnasialquote ist in der Beamten- und Universitätsstadt Bonn mit 52 % besonders hoch und in der Ruhrgebietsstadt Duisburg mit 26 % besonders niedrig.

Chancengleichheit ist in unserem Bildungssystem längst nicht überall gegeben. Nach wie vor schneiden Arbeiterkinder schlecht ab beim Besuch des Gymnsiums; die soziale Ungleichverteilung scheint sich fortgeschrieben zu haben. Die Migrantenkinder haben die Rolle des "katholischen Arbeitermädchens aus dem Bayerischen Wald" eingenommen, also der Kunstfigur, mit der man in den 60er Jahren die schlechtesten Bildungschancen beschrieb.

Unterschiedlich an diesen Befunden ist nur die politische Bewertung: Während die Bayern eher dazu neigen, diese Diskrepanzen begabungstheoretisch zu begründen, sage ich: Ich sehe die Unterschiede. Ich nehme sie nicht als naturgegeben hin. Ich will den Zugang zu höherer Bildung auch im Ruhrgebiet deutlich verbessern. Dabei müssen aber Qualitätsstandards eingehalten werden.

Ich habe nun die bekannten Felder genannt, in denen Chancenungleichheit nach wie vor besteht: Benachteiligt sind Kinder aus Migrantenfamilien, aus Familien in schwierigen Lebenslagen und aus städtischen Ballungsgebieten mit hoher Arbeitslosigkeit. Zum Teil überschneiden sich die Merkmale. Ich will aber noch auf ein anderes, sehr viel aktuelleres Feld eingehen, in dem Chancenungleichheit droht: Die neuen Medien bergen die große Gefahr, zu neuen sozialen Spaltungen und zu scharfen Ungerechtigkeiten zu führen.

Dabei wird es nicht darum gehen, ob Kinder aus begüterten Schichten besser und intelligenter mit den neuen Medien umgehen können als andere. Es geht im ersten Schritt ganz schlicht um den Zugang zum Computer und zum Internet. Welche Familie kann sich einen Rechner leisten und welche nicht? Im Oktober berichtete DER SPIEGEL, dass 58 % der Hauptschüler Kontakt mit Computern haben, aber 78 % der Gymnasiasten.

Der gleiche Abstand zeigt sich auch beim Zugang zum Internet. Hier müssen wir sehr sorgsam darauf achten, dass am Ende des Prozesses der Mediatisierung nicht die "information rich" und die "information poor" als neue soziale Klassen nebeneinander stehen.

Wir müssen sehr sorgsam darauf achten, dass am Ende des Prozesses der Mediatisierung nicht die "information rich" und die "information poor" als neue soziale Klassen nebeneinander stehen.

Ich will mich jetzt der Frage zuwenden, was nun zu tun ist. Um die Chancengleichheit ist es in den letzten Jahren sehr ruhig geworden. Was können die Gründe dafür sein? Ich glaube nicht, dass dem ein wie auch immer gearteter Umschwung hin zu neoliberalem Gedankengut zugrunde liegt. Ich mache dafür auch nicht ein Wiedererstarken alter Vererbungstheorien verantwortlich. Ebenso glaube ich nicht, dass das Paradigma vom eigenen Glückes Schmied wieder fröhliche Urständ feiert.

Vielmehr spielen nach meiner Auffassung Enttäuschung und Resignation eine große Rolle. Für diese Enttäuschung der vielen engagierten Lehrerinnen und Lehrer habe ich großes Verständnis. Man hat das Bildungsprivileg brechen und die Segnungen der höheren Bildung auf alle Arbeiterkinder aus-weiten wollen. Aber der flächendeckende Durchbruch ist nicht erfolgt.

Und die Arbeit war anstrengend für die Lehrer! Je nachdem, welche Zahlen man zugrunde legt, hat man die soziale Ungleichheit nur zementiert. Und beim Blick auf diese Tatsache geraten die sonstigen Erfolge schnell in Vergessenheit.

Ich glaube aber, das Verschwinden der Chancengleichheitsdebatte hat noch einen anderen wichtigen Grund, nämlich Ratlosigkeit. Die gut gemeinten Rezepte haben versagt, kompensatorische Erziehung hat nicht zum erhofften Abbau sozialer Ungleichheiten im Bildungssystem beigetragen. Aber warum? Ratlosigkeit basiert meist auf mangelndem Wissen. Das scheint mir ein Hauptproblem in diesem Kontext zu sein. Wir wissen viel zu wenig über das, was in unseren Schulen und in den anderen Sektoren des Bildungssystems passiert.

Mit Wissen meine ich empirisch abgesichertes Wissen. Wir haben doch von dem, was in Schule passiert überwiegend nur Meinungen, Plausibilitätsbehauptungen und vielerorts nur Vorurteile. Viel zu wenig abgesichertes Wissen haben wir beispielsweise bei den folgenden Fragen.

Warum hat die lange Jahre gültige Gleichung: Mehr Geld, mehr Lehrerstellen, höhere Gehälter, kleinere Klassen nicht zum gewünschten Schulerfolg für mehr Kinder geführt? (Hier sei an die TIMSS-Ergebnisse erinnert und an die Ergebnisse von LAU in Hamburg.)

Warum führen die zahlreichen Integrationsmaßnahmen für ausländische Schülerinnen und Schüler nicht zu deutlich besseren Ergebnissen? (Bei den Absolventen ohne Schulabschluss liegen Ausländerkinder weit vorn.) 4.800 Lehrerstellen stecken wir allein in Nordrhein-Westfalen in diese Fördermaßnahmen (muttersprachlicher Unterricht und Integrationshilfen für ausländische und Aussiedlerkinder).

Welcher Unterricht hilft benachteiligten Kindern, welcher Unterricht ist gerade für diese Zielgruppe wirkungslos? Der Schweizer Bildungsforscher Uri Peter Trier hat gesagt: "Hilfe erzeugt Hilflosigkeit." Was folgt daraus für unsere Arbeit in der Schule?

Hilft die Ganztagsschule bei der Kompensation von Lernrückständen, oder glauben wir das nur, weil es plausibel erscheint?

Innovation und Gerechtigkeit sind keine Gegensätze, sondern gehören dort zusammen, wo es um die Gestaltung einer modernen Gesellschaftspolitik geht.

Wo liegt das Geheimnis des Erfolges, wenn Kinder aus prekären Lebenslagen trotzdem gute Abschlüsse machen? Warum haben Schulen mit sozioökonomisch vergleichbaren Ausgangslagen unterschiedliche Lernerfolge?

Viele Fragen - wenige Antworten. Eines ist aber klar: Das politische Ziel der Chancengleichheit bleibt für mich einer der wichtigsten Aufträge für die nächsten Jahre in der Schulpolitik.

Die Rückschläge und die nicht erfüllten Hoffnungen können uns nicht dazu führen, das Chancengleichheitsgebot still-schweigend zu den Akten zu legen. Gleicher Zugang zur Bildung, gleiches Recht auf gute intellektuelle und soziale Ausstattung für den Berufsweg sind unumstößliche Werte unserer Gesellschaft. Vielfach wird ja in der letzten Zeit so diskutiert, als stünden Innovation und Leistung im Widerspruch zum Chancengleichheitspostulat.

Das sehe ich ganz anders: Innovation und Gerechtigkeit sind keine Gegensätze, sondern gehören dort zusammen, wo es um die Gestaltung einer modernen Gesellschaftspolitik geht. Mit dem Gegensatzpaar "Leistung versus Chancengleichheit" wird doch das schiefe Bild transportiert, dass bei den Leistungsanforderungen immer auf den letzten Nachzügler gewartet wird.

Das hat aber mit der Realität in unseren Schulen und Universitäten nichts zu tun. Im Gegenteil: Der Leistungsstandard an unseren Schulen ist überwiegend gut, auch wenn in einigen Fächern, in einigen Schulen und Schulformen noch kräftig nachgearbeitet werden muss.

Wer aber im Sinne eines falschen Paternalismus meint, die benachteiligten Kinder vor Leistungsanforderungen schützen zu müssen, unterliegt einem der zahlreichen pädagogischen Irrtümer: Gerade Kinder mit Lernproblemen müssen nicht nur gefördert, sondern auch gefordert werden. Klaus Klemm hat sehr richtig gesagt, dass schulisches Laisser-faire für Kinder bildungsferner Schichten tödlich sei. Da gebe ich ihm völlig Recht!

Also noch einmal: Chancengleichheit bleibt Verpflichtung! Für das Schulsystem heißt ein solches Postulat konkret: Die Gesellschaft muss die Mittel für den Ausgleich von gravierenden Unterschieden bei den Voraussetzungen der Kinder bereitstellen. Wir brauchen keine Reduzierung von Unterstützungs- und Förderungsprogrammen, sondern eher einen gezielten Einsatz der Mittel, verbunden mit einer Steigerung der Effektivität. Ich plädiere sehr dafür, die Wirksamkeit aller unserer Fördermaßnahmen gründlich zu überprüfen.

Und zwar empirisch. Gerade im Interesse der benachteiligten Kinder und Jugendlichen in unserem Bildungssystem brauchen wir abgesichertes Wissen darüber, ob und wie die Maßnahmen wirken und wie wir die Produktivität noch steigern können. Als Bildungspolitikerin will ich gern viel für die Förderung Benachteiligter streiten, aber ich erwarte auch höchste Qualität und Leistung dieser Maßnahmen.

Gerade hier müssen wir Effektivität und Effizienz einfordern, gerade im Interesse der Kinder mit Nachholbedarf können wir uns ein Verplempern von Ressourcen nicht erlauben. Der Sachverständigenrat der Hans-Böckler-Stiftung hat richtig festgestellt: Die Zeiten des sorglosen und folgenlosen Umgangs mit Geld und Stellen im Bildungswesen sind vorbei.

Zum Abschluss möchte ich einige Maßnahmen, Ideen und Projekte skizzieren, mit denen wir dem Ziel, mehr Chancengleichheit im Bildungswesen zu schaffen, näher kommen können. Auch hier will ich Anregungen geben und Fragen stellen. Richtige und wirksame Rezepte müssen erst noch entwickelt werden. Allen Bemühungen um Chancengleichheit zum Trotz ist das deutsche gegliederte Schulsystem hoch selektiv.

Hinzu kommt, dass die Selektionsprozesse früh abgeschlossen sind. Bereits nach dem 6. Schuljahr sind die individuelle Schulkarriere, der spätere Berufsweg und das künftige Einkommen für viele weitgehend festgelegt. Müssen wir deshalb nicht noch in der Grundschule dafür sorgen, dass Alle, auch Kinder in prekären Lebenslagen, mehr Basiswissen erwerben? Ist es nicht ein sinnvolles Ziel, dass alle Schülerinnen und Schüler nach Abschluss der Grundschule die Kulturtechniken nicht nur befriedigend, sondern gut beherrschen müssen?

Ich könnte mir in diesem Zusammenhang vorstellen, dass man in der dritten Klasse den Leistungsstand der Kinder erhebt - wir planen in Nordrhein-Westfalen demnächst Parallelarbeiten in dieser Jahrgangsstufe. Der Leistungsstand der jeweiligen Klasse kann den Lehrerinnen und Lehrern zeigen, wo es noch Lernrückstände gibt.

Wenn man diese Kinder nicht schon in Klasse 3 "abschreiben" will, dann hilft nur ein intensiver Förderunterricht, ein Training in den Kulturtechniken. Die Behauptung, Schule ändere soziale Disparitäten nicht, sondern zementiere sie nur, kann und will ich nicht akzeptieren.

Ich halte es dem gegenüber für sinnvoll, mit hoch-wirksamen Unterstützungsmaßnahmen die Lernstandsdifferenzen und die Leistungsunterschiede deutlich zu verringern. Grundschulkinder in prekären Lebenslagen brauchen mehr Unterrichts- und Betreuungszeit als fünf Stunden täglich. Ich kenne in Nordrhein-Westfalen sehr ermutigende Beispiele, wo Grundschulkinder in schwierigen Stadtteilen durch die Bündelung von Ressourcen aus Jugendhilfe, Gesundheitsversorgung etc. nicht nur ganztägig betreut werden, sondern zugleich wichtige Hilfen bei ihrer intellektuellen und sozialen Entwicklung erhalten.

Ich erwarte von dieser Zusammenführung der bislang zersplitterten Ressourcen für die Kinder spürbare - und sicher irgendwann auch messbare Verbesserungen - wie zum Beispiel höhere Übergangsquoten zur Realschule und zum Gymnasium, sinkende Zahlen beim Schuleschwänzen usw. Wenn sich nachweisen lässt, dass Lernrückstände durch eine flexible Ganztagsbetreuung aufgeholt oder gemildert werden können und dass zugleich die sozialen Kompetenzen steigen, dann muss man solche Modelle auch für die Klassen 5 und 6 fordern.

Ich will der Ratlosigkeit aufgrund von mangelnden Erkenntnissen entgegenwirken. Wir brauchen erheblich mehr Forschung über die Prozesse und die Ergebnisse von Schule. Mit der Beteiligung an TIMSS und jetzt an PISA haben wir eine Reihe von Erkenntnissen über den Qualitätsstandard an unseren Schulen erheben können oder werden es in Kürze tun. Ich weiß, dass viele Lehrerinnen und Lehrer die Vergleichsuntersuchungen strikt ablehnen.

Aber: Wer Schule gestalten, wer sie verbessern will, muss die Ausgangsbedingungen genau kennen. Und wenn ich im Sinne eines guten Zieles mit viel Geld interveniere, muss ich auch so mutig sein, später die Ergebnisse der Intervention zu überprüfen. Manchmal hilft übrigens schon der analysierende Blick auf die vorhandenen Daten.

Wenn sich dabei etwa herausstellt, dass eine Region im Land bei der Schulabschlussquote besonders schlecht ist, dann muss nachgefragt werden. Eine solche regionale Chancenungleichheit kann nicht akzeptiert werden. Hier muss man nach den Ursachen fahnden und mittelfristig Zielvereinbarungen abschließen, die eine Verbesserung des Misstandes zum Inhalt haben - aber nicht auf Kosten der Qualität der Abschlüsse! Ein solches strategisches Vorgehen wird erst durch Bildungsberichterstattung möglich.

Forschen müssen wir aber auch bei den guten Beispielen. Mich interessiert z.B.: Warum sind Kinder aus schwierigen Lebenslagen trotz aller schlechter Prognosen zu erfolgreichen Lernern geworden? Oder: Wie optimiere ich den Unterricht so, dass auch die Leistungsschwachen besser lernen? Eine empirische Studie aus den USA hat nach den wirkungsvollsten Unterstützungsmaßnahmen bei Lernrückständen gefragt.

Mehr Lehrerstunden, also mehr Unterrichtszeit war ein Parameter, Hilfe durch Erwachsene (Eltern und Nachhilfe) und Hilfe durch ältere Schüler waren die anderen Förderinstrumente. Was hat die größte Wirkung?, so die Frage der Studie. Man glaubt es kaum, aber am allerbesten hat die Hilfe durch ältere Schüler, also das Mentorensystem, abgeschnitten. Stimmt dieses Ergebnis auch für Deutschland?

Was heißt das für unser Bemühen um mehr Chancengleichheit? Stecken möglicherweise Ressourcen in unserem System, die wir bislang noch nicht genutzt oder überhaupt noch nicht entdeckt haben? Hier wäre doch ein Ansatzpunkt für die Praktizierung sinnvoller kommunitaristischer Ideen, nämlich für die Hilfe untereinander, in der Schulgemeinschaft. Ich denke, auch im Schulbereich haben wir in den letzten Jahren den Sozialstaat zu oft missverstanden.

Jedes Problem sollte der Staat durch ein Mehr an Ressourcen lösen. Also: Probleme in der Schule - her mit 10.000 neuen Lehrerstellen! Wir haben vergessen, welche Stärken in der Gemeinschaft stecken, vergessen, dass die Hilfe durch Andere nicht nur menschlich zutiefst befriedigend ist, sondern vielleicht auch noch besonders wirkungsvoll ist. Bei den Kommunitariern können wir eine Menge an Veränderungsmöglichkeiten für unsere Schulen lernen.

Ich will regionale Chancengleichheit durchsetzen. Das heißt beispielsweise, die hohe Abiturquote in der Beamten- und Universitätsstadt Bonn und die notorisch niedrige im Duisburger Stadtgebiet können nicht als naturgegeben oder gott-gewollt hingenommen werden. Hier müssen die Schulen zum Ausgleich ein Plus an Ressourcen haben. Wer sich die Chancengleichheit auf die Fahnen schreibt, muss auch den Mut haben, mehr Ressourcen an Schulen mit schwierigeren Ausgangsbedingungen zu geben.

Regionale Chancengleichheit heißt beispielsweise, die hohe Abiturquote in der Beamten- und Universitätsstadt Bonn und die notorisch niedrige im Duisburger Stadtgebiet können nicht als naturgegeben oder gottgewollt hingenommen werden. Hier müssen Schulen zum Ausgleich ein Plus an Ressourcen haben.

Abschließend noch ein Wort zu den neue Medien. Wer soziale Gerechtigkeit im Bildungswesen will, muss in diesem Sektor tätig werden. Wir wissen doch, dass in Familien mit gutem Einkommen der Computer für die Kinder eine Selbstverständlichkeit ist. Bei Migrantenfamilien und bei Familien, die von der Sozialhilfe oder knapp darüber leben, ist das anders. Hier brauchen wir in den Ländern eine konzertierte Aktion von Schulen und Kommunen.

Die Ausstattung der Schulen mit Computern muss in den nächsten Jahren mit allem Nachdruck vorangetrieben werden. Hier könnten Firmen durch Sponsoring helfen, die enormen Kosten zu senken, die hier entstehen.

Ziel muss es sein, in absehbarer Zeit in jedem Klassenzimmer mehrere Rechner zu installieren, und sie in den Unterricht zu integrieren. Wir brauchen auch offene Räume für Kinder und Jugendliche in den Stadtteilen - Internetcafés zum Beispiel oder PCs in Stadtbüchereien und Jugendeinrichtungen. Alle Kinder und Jugendlichen müssen unabhängig vom Geldbeutel der Eltern den Zugang zum Computer und zum Internet haben. Ich halte das schon deshalb für wichtig, weil das Internet im Prinzip klassenlos ist - der technische Zugang ist ja relativ einfach, alle Informationen stehen allen zur Verfügung.

Ich kann mir deshalb vorstellen, dass das neue Medium zu einem Instrument wird, mit dem soziale Unterschiede bei den Bildungschancen ausgeglichen werden können. Voraus-gesetzt natürlich, wir schaffen den Zugang für alle Kinder und Jugendlichen und schulen ihre Medienkompetenz.

In diesem Sinne möchte ich optimistisch schließen. Chancengleichheit ist - nach wie vor - ein wichtiges und durchaus nicht unerreichbares Ziel. Es braucht aber die Entschlossenheit aller politisch Verantwortlichen und den entsprechenden Willen. Und vielleicht auch den Mut, zusätzliches Geld in dieses so wichtige Projekt zu investieren.


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Einführung/Kongressleitung
- Holger Lührig

Plenum, 11. November 1999
- Tilo Braune
- Christine Bergmann
- Steffen Reiche
- Prof. Dr. Rolf Kreibich

Plenum, 12.November 1999
- Wolf-Michael Catenhusen
- Gabriele Behler