Potsdamer Konferenz - Forum V

Theo Länge

Kulturelle Vielfalt und Eingliederung


Meinem Thema möchte ich mich mit einer interkulturellen Rechenaufgabe nähern, die drei Lösungen anbietet:

Die erste Lösung steht für den Ansatz, dass wir uns im Zuge der Internationalisierung und Globalisierung auf eine einzige Kultur zubewegen, die europaweit (weltweit) tendenziell gleich ist: die Kultur von MacDonald´s und Coca Cola.

Die zweite Lösung steht für zwei isolierte Einheiten, die voneinander unabhängig bleiben und keinerlei Verbindung eingehen.

Die dritte Lösung beschreibt eine Begegnungssituation, in der aus dem Zusammentreffen zweier Kulturen etwas Neues entsteht. Das wäre zum Beispiel Ergebnis eines gelungenen Ansatzes in der Weiterbildung. Wie es zu diesem "Neuen" kommen kann, was Weiterbildung dazu beitragen kann, soll im Folgenden beleuchtet werden.

Zur Ausgangslage:

Im Jahr 1995 hielten sich insgesamt ca. 7,5 Millionen ausländische Staatsangehörige, größtenteils ArbeitsmigrantInnen und deren Angehörige, dauerhaft in der Bundesrepublik auf. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug damit knapp 9 % (im europäischen Vergleich liegt diese Quote im oberen mittleren Bereich). Die Gruppe der ausländischen MitbürgerInnen in Deutschland lässt sich untergliedern in ArbeitsmigrantInnen, AsylbewerberInnen und Flüchtlinge.

Ich möchte unter dem Aspekt der kulturellen Vielfalt auch die AussiedlerInnen erwähnen, die Jahr für Jahr in die Bundesrepublik Deutschland kommen. Die größten Gruppen der ausländischen Wohnbevölkerung bildeten Ende 1998 die Türken mit 2,11 Millionen (28,8 %), Staatsangehörige der BR Jugoslawien mit ca. 700.000 Personen (9,8 %), aus Italien mit ca. 610.000 Personen(8,6 %), aus Griechenland mit ca. 350.000 Personen (5,0 %), aus Polen mit ca. 290.000 Personen (3,9 %), aus Kroatien mit ca. 200.000 Personen (2,9 %), aus Bosnien mit ca. 190.000 Personen (2,6 %) und aus Österreich mit ca. 188.000 Personen (2,5 %). 1,7 Millionen Menschen (23,1 %) sind unter 18 und 5,4 Millionen Menschen sind zwischen 18 und 66 Jahren alt. Dabei wächst der Anteil der älteren MigrantInnen stetig (430.000 Personen über 60 Jahre; 2010 werden es 1,3 Millionen Personen sein). 1,5 Millionen aller AusländerInnen sind bereits in Deutschland geboren. 1,4 Millionen leben als Flüchtlinge unter uns.

Ein Blick auf die Lebensbedingungen von MigrantInnen macht deutlich: Deutschland ist de facto ein Zuwanderungsland und wird dies auch in Zukunft bleiben.

Beschreibt man die Lebenssituation dieser sehr unterschiedlichen Gruppen von Menschen, kann man die These wagen, dass Migration den Beginn vielfältiger Benachteiligungen markiert. Zu nennen sind hier die sechs folgenden Aspekte:

  • Es bestehen aufenthalts- und sozialrechtliche Unsicherheiten.
  • Der soziale Status der MigrantInnen ist niedrig (z. B. leben 76 % der Flüchtlinge und AsylbewerberInnen, 52 % der AussiedlerInnen und 62 % der MigrantInnen in Wohnungen mit weniger als 6 qm Wohnfläche pro Kopf).
  • Soziopsychologische und kulturelle Bedingungen haben u. a. Entfremdung zum Herkunftsland und zu den dort verbliebenen Familienangehörigen, Normen- und Rollenkonflikte sowie Identitätsprobleme durch konfigurierende Kultureinflüsse zur Folge.
  • 40 % der über 55-jährigen MigrantInnen sind von der Sozialhilfe abhängig. MigrantInnen werden in der Regel zehn Jahre früher krank als ihre deutschen ArbeitskollegInnen (körperliche Beanspruchung durch Schichtarbeit, Akkord und Überstunden, psychische Belastungen durch Heimweh).
  • Zwei Drittel bis vier Fünftel der ArbeitsmigrantInnen der ersten Generation sind an- und ungelernt.
Diese kurze Skizzierung der Zahlen und Lebensbedingungen macht insbesondere zwei Dinge deutlich: Deutschland ist de facto ein Zuwanderungsland und wird dies auch in Zukunft bleiben.
Chancengleichheit mit Blick auf individuelle Entwicklungsmöglichkeiten, Bildungschancen, Sozialstatus, etc. gibt es für die genannten Gruppen weitgehend bislang noch nicht.

Interkulturelle Bildung hat zwar eine Fülle didaktischer Ideen und spannender Projekte hervorgebracht, ist aber keine "Pädagogik für den Normalfall" geworden.

Das heißt, von politischer und bürgerschaftlicher Seite müssen Maßnahmen ergriffen werden, um Chancengleichheit zu ermöglichen; dazu zählt sicherlich als erster und ganz vehementer Schritt das mit dem Jahr 2000 in Kraft tretende Staatsangehörigkeitsrecht, das aber nun auch mit Leben gefüllt werden muss. Wenngleich der Tatbestand der Multikulturalität aufgrund der demographischen Daten nicht zu leugnen ist, so sind die Widerstände in der Gesellschaft, dieses Faktum zu akzeptieren und ihm politisch, rechtlich, sozial und kulturell Rechnung zu tragen, nach wie vor groß.

Wie reagiert die Weiterbildung auf diese Situation?

Diese Frage ist schwer zu beantworten, da wenig gesicherte Daten vorliegen und die Arbeit mit MigrantInnen ganz sicher nicht im Mittelpunkt der Weiterbildungsangebote steht. Wenig Informationen gibt es auch deshalb, weil bis 1997 z. B. im Berichtssystem Weiterbildung (BMBF) die Zielgruppe gar nicht erfasst wurde. Erste Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • AusländerInnen nehmen wesentlich weniger als Deutsche an Weiterbildung teil.
  • Wenn sie es tun, dann im Bereich der beruflichen Weiterbildung und hier vorwiegend an Ein-arbeitungs- und Anpassungskursen.
  • Im Bereich der allgemeinen Weiterbildung nehmen sie insbesondere an Sprachkursen (Deutschkursen) teil.
  • Ähnliches gilt für AussiedlerInnen, wenngleich ihnen anfangs bessere Intergrationsmaßnahmen zur Verfügung stehen.
  • Auch wenn bislang wenig differenzierte Zahlen vorliegen, möchte ich mit den folgenden Anmerkungen insbesondere den Stand in der allgemeinen Weiterbildung nachzeichnen und die Arbeit unter dem Stichwort "interkulturelle Bildung" zusammenfassen:

1.

Interkulturelle Bildung hat zwar eine Fülle didaktischer Ideen und spannender Projekte hervorgebracht, ist aber keine "Pädagogik für den Normalfall" geworden.

Es gibt eine Reihe von Angeboten für ausländische Bürger und Mitbürgerinnen, die aber unter dem Stichwort "Randgruppenpädagogik" durchgeführt werden. Zu denken ist hier insbesondere an die Vielzahl von Angeboten für ethniespezifische Gruppen, wie z. B. Deutsch für TürkInnen, Gesprächskreise für spanische oder griechische MigrantInnen (etwa über Steuer-, Gesundheits- und Rentenfragen).

Etabliert hat sich im Weiterbildungsbereich daneben ein Angebot im Bereich der beruflichen Bildung. Hier finden wir z. B. berufsqualifizierende Kurse im Bereich der EDV für bestimmte ethnische Gruppen.

Diese ethniespezifische Arbeit kann aber nur ein Schritt sein, einen Einstieg in interkulturelle Angebote zu ermöglichen. Festzustellen ist, dass insgesamt gesehen die allgemeine und insbesondere auch die politische Bildung bislang wenig auf die Herausforderungen reagiert hat, die sich aufgrund der Multikulturalität ergeben. Überdies hat die Weiterbildung bislang nur sehr begrenzt den Bildungsbedarf erhoben.

2.

Auch wenn sich die politische und die allgemeine Bildung den Herausforderungen zu wenig stellt, nehmen MigrantInnen an Weiterbildungsangeboten teil. Die Chance für die Initiierung interkultureller Lernprozesse wird allerdings zu wenig oder gar nicht genutzt. In Veranstaltungen von "Arbeit und Leben" findet sich immerhin ein Anteil von 10 bis 15 % MigrantInnen. Die spezifischen Erkenntnisse, Erfahrungen, Sichtweisen und Perspektiven von MigrantInnen werden aber in der Regel nicht in Beziehung gesetzt zu den Themen, die in den Seminaren behandelt werden.

Es wäre eine hervorragende Aufgabe, insbesondere für die politische Bildung, die Interkulturalität als inhaltliche Dimension und didaktisches Prinzip in den Veranstaltungen und Seminaren zu verankern. Bislang werden MigrantInnen häufig nur dann wahrgenommen und zum "Bildungsgegenstand", wenn es Konflikte gibt.

3.

Es gibt im Weiterbildungsbereich zwar eine Fülle von interkulturellen Projekten; in der Regel stehen diese aber unter dem thematischen Fokus von Fremdenfeindlichkeit, Gewalt und Rechtsextremismus. Dies ist sicherlich eine unverzichtbare Arbeit, die aber häufig einer "Feuerwehr-Funktion" geschuldet ist und nicht Bestandteil einer kontinuierlichen Bildungsarbeit sein kann. Parallel dazu sind auch die Angebote zu nennen, die unter dem Begriff "Multikulti" durchgeführt werden. Zu fragen gilt es aber hier, ob und wie weit das der richtige Ansatzpunkt sein kann.

Interkulturelles Lernen muss als didaktisches Prinzip zum integralen Bestandteil einer Vielzahl von Angeboten werden, auch im Bereich der politischen Bildung.

4.

Interkulturelle Bildung orientiert sich bisher sehr stark auf und an interkulturellen Erfahrungen im jeweils anderen Land. Die interkulturellen Erfahrungsmöglichkeiten und Notwendigkeiten im eigenen Land werden darüber häufig vernachlässigt.

Erfahrungen aus der Weiterbildung mit MigrantInnen

Die Erfahrungen aus der Weiterbildung mit MigrantInnen basieren auf Modellprojekten. Das heißt, diese Arbeit konnte begonnen und durchgeführt werden vor dem Hintergrund einer wesentlich besseren Ausstattung, als es in der Regelförderung (soweit eine solche überhaupt gegeben) möglich ist. Einige der gemachten Erfahrungen werden im folgenden skizziert. Dabei möchte ich fünf Aspekte ansprechen:

1.
Die Voraussetzungen:

Eine Voraussetzung, um die Arbeit beginnen zu können, ist die Verankerung in den lokalen Strukturen mit geeigneten Kooperationspartnern, z. B. mit ausländischen Vereinen, engagierten Sozialarbeitern, etc. Dabei kommt es insbesondere auch darauf an, engagierte Einzelpersonen aus der jeweiligen Ethnie in die Arbeit einzubeziehen.

2.
Die Ansprache der TeilnehmerInnen:

Angesprochen werden können ausländische Teil-nehmerInnen in der Regel nur über persönliche Kontakte oder Vertrauensleute aus der eigenen Ethnie. Von daher ist es unerlässlich, insbesondere geeignete muttersprachliche Personen zu finden, die diese Arbeit übernehmen können. Das Sprachproblem darf nicht ignoriert werden. In vielen Fällen ist es notwendig, eine Übersetzung zu leisten. Das trifft aber insbesondere für die erste Generation der MigrantInnen zu. Am Anfang entsprechender Aktivitäten steht die Notwendigkeit, Angebote im unmittelbaren Wohn- und Lebensumfeld zu platzieren, damit keine zusätzlichen Zugangsbarrieren geschaffen werden. Über den Weg von Stunden- oder Tagesveranstaltungen kann es gelingen, die Zielgruppe auch für mehrtägige Veranstaltungen zu gewinnen. Die Bekanntmachung in Arztpraxen, Bürgerbüros, etc. ist notwendig, d. h. hier müssen andere Wege beschritten werden, als es ansonsten in der Weiterbildung üblich ist.

3.
Die Veranstaltungsformen:

Es bieten sich häufig niedrigschwellige Angebote an, wie z. B. gemeinsame Koch- und Backabende (Blick über den Tellerrand). Über das Berichten unterschiedlicher Sitten, Gebräuche und Traditionen ist man schnell bei Fragen des Konsums, des ökologischen Wirtschaftens, der sozialen Gerechtigkeit, usw.

4.
Inhaltliche und methodische Umsetzung:

In didaktisch-methodischer Hinsicht ist, mehr als bei jeder anderen Zielgruppe, der biografisch-lebensweltliche Ansatz zu empfehlen. Das biographische Lernen bietet sich als methodisches Instrumentarium in idealer Weise an, da es den Prozess der Rückbesinnung, der Gegenwartsverortung und der Perspektivplanung systematisch begleitet. Dieser Ansatz bietet die Gewähr, mit den Teilnehmenden in ein intensives Gespräch zu kommen, hier sind die Teilnehmenden selbst ExpertInnen, hier können sie das Seminar aktiv gestalten.

5.
Zum Seminarteam: Grundsätzlich sollte das Seminarteam aus zwei oder drei Personen bestehen und sich ebenfalls interkulturell zusammensetzen.

Worauf zielt interkulturelle Bildung?

Interkulturelle Bildung in Form eines gesonderten Programmangebotes zu etablieren und damit die Gefahr einer weiteren Separierung und Marginalisierung dieses Programmsegments einzugehen, ist sicherlich der falsche Weg. Interkulturelles Lernen muss als didaktisches Prinzip zum integralen Bestandteil einer Vielzahl von Angeboten werden, sei es im fremdsprachlichen, kreativen, naturwissenschaftlichen, kulturellen und insbesondere auch im Bereich der politischen Bildung. In diesem Sinne erhält interkulturelles Lernen eine eminent politische Bedeutung und trägt sowohl zur kulturellen Vielfalt als auch zur Chancengleichheit bei. Interkulturelles Lernen impliziert dabei zwei Dimensionen:

Erstens die Selbstreflexion als Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Geprägtheit, den Normen und Werten der Herkunftsgesellschaft, der ethnozentrischen Perspektive, die vielfach mit Überlegenheitsgefühlen einhergeht.

Zweitens die Interaktion und Kommunikation mit den Partnern aus den unterschiedlichen Herkunftsländern oder uns fremden Ländern. Werden diese Dimensionen berücksichtigt, ist es möglich, von einer "shake hands-Philosophie" zu einer kritischen Solidarität im Umgang mit dem Fremden zu kommen.

Interkulturelles Lernen bezieht sich nicht nur auf "kulturelles" Lernen zwischen den unterschiedlichen ethnischen Kulturen. Kultur wird in einem weiteren Sinne verstanden. Kultur meint hier das Verhalten, die Werte, Normen und Überzeugungen, die Menschen sich innerhalb einer bestimmten Gruppe oder Gesellschaft durch Lernprozesse angeeignet haben und die ihnen zu einer spezifischen Sichtweise auf die Realität verhelfen.

Für das Verständnis von interkulturellem Lernen bedeutet ein erweiterter Kulturbegriff, dass sich Lernen nicht nur auf die ethnische oder nationale Dimension bezieht, sondern auch die soziale Dimension berücksichtigt. Die einem solchen Verständnis implizierte Differenzierung bewahrt vor vorschnellen Verallgemeinerungen und lenkt den Blick auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die eindimensionalen Wahrnehmungsmustern entgegenwirken.

Die Frage ist nicht, was unterscheidet oder verbindet bspw. Deutsche und Franzosen, sondern was unterscheidet oder verbindet einen französisch-sprachigen Mittelstandsschüler maghrebinischer Herkunft und einen deutschsprachigen kaufmännischen Auszubildenden türkischer Herkunft. In diesem Kontext wird deutlich, dass der moderne Mensch mehrere Identitäten hat; ethnisch, soziokulturell, religiös, generationsbedingt, beruflich, etc.

Nur in diesem Sinne kann es gelingen, zu dem übergeordneten Ziel des interkulturellen Lernens, nämlich einer "kritischen Solidarität" zu kommen. Dazu kann und muss die Weiterbildung künftig einen stärkeren Beitrag leisten.


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Einführung/Thesenpapier/
Bericht

- Prof. Dr. Peter Faulstich

Round-Table 1:
Weiterbildung, soziale Barrieren und Gender-Mainstreaming
- Prof. Dr. Christiane Schiersmann

Round-Table 2:
Solidarität und Kulturelle Vielfalt als Leitbild für die Institutionen der Erwachsenenbildung
- Prof. Dr. Ekkehard Nuissl
- Theo Länge
- Dr. Karin Derichs-Kunstmann

Round-Table 3:
Soziale Gerechtigkeit und Weiterbildungspolitik
- Dr. Eva-Maria Bosch