Potsdamer Konferenz - Forum V

Prof. Dr. Ekkehard Nuissl

Institutionelle Voraussetzungen erhöhter Chancengleichheit

Das Thema meines Beitrages hat eine doppelte Bedeutung, wenn es um Voraussetzungen erhöhter Chancengleichheit und Institutionen geht:

Zum einen muss man heute fragen, ob Institutionen der Weiterbildung an sich Voraussetzungen erhöhter Chancengleichheit in der Weiterbildung sind, zum zweiten ist zu fragen, wie Institutionen aussehen müssen, um eine erhöhte Chancengleichheit zu gewährleisten. Diese beiden Fragen werde ich im Folgenden nacheinander behandeln und schließlich in einem dritten und letzten Abschnitt der Frage nachgehen, wie bestehende Benachteiligungen aufhebbar sind und die Chancengleichheit sich erhöhen kann.

Institutionen als Voraussetzungen?

Vor einigen Jahren hätte man diese Frage nicht gestellt. Heute gibt es vielfach jedoch einen Affekt gegen Institutionen, getragen von einem geradezu wild gewordenen Individualismus, gestützt durch ideologieorientierte Debatten zu Selbststeuerung und Selbstorganisation beim Lernen. Vielfach wird schon daran gezweifelt, ob das Durchlaufen der Institutionen des Bildungssystems und die dort erworbenen Abschlüsse ihre traditionelle "Platzanweiserfunktion" im Beschäftigungssystem noch haben.

Ich lege Wert auf die Feststellung, dass Institutionen der Bildung und der Weiterbildung ein historischer Erfolg entwickelter Gesellschaften sind, dass sie eine Errungenschaft sind und an sich eine gesellschaftliche Innovation. Institutionen der Weiterbildung ermöglichen es den Menschen, sich zu orientieren und zu entwickeln, stellen Professionalität und Qualität von Bildungsprozessen sicher, bieten Kontinuität, Sicherheit und Verwertbarkeit von Abschlüssen und haben kaum schätzbare soziale und ökonomische Nebeneffekte. Institutionen sind für die Bildung in entwickelten Gesellschaften unverzichtbar. Natürlich muss man sich mit den kritischen Punkten auseinander setzen, die heute gegen Institutionen vorgebracht werden.

Vielfach wird darauf verwiesen, dass die ursprünglich innovative Funktion von Bildungsinstitutionen im 19. Jahrhundert sich in den letzten zehn bis zwanzig Jahren gewandelt habe. Institutionen im Bildungsbereich seien ein starres, unflexibles System geworden, das den heutigen Anforderungen kaum gerecht werde. Wie auch immer man diese Argumentation in anderen Bildungsbereichen einschätzen mag: In der Weiterbildung gilt sie in keinem Fall. Hier sind die (überwiegend kleinen) Institutionen von einer großen Dynamik und Flexibilität. Auch das lehrende Personal ist - durch die Menge neben- und ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - in einer steten Bewegung.

Institutionen der Bildung und der Weiterbildung sind ein historischer Erfolg entwickelter Gesellschaften und eine gesellschaftliche Innovation.

Die Freiwilligkeit der Teilnahme an Weiterbildung, das Element der "Nachfrage" auf dem "Weiterbildungsmarkt", konstituiert eine größere Dynamik als in anderen Bildungsbereichen. Allenfalls hinsichtlich des hauptberuflich beschäftigten Personals könnte man von einer "Alterskohorte" sprechen, die in den 70er-Jahren, im Zuge des Ausbaus von Weiterbildungseinrichtungen, eingestellt wurde und heute noch diese Arbeitsplätze inne hat. Dies verweist einerseits auf geringe Aufstiegs- und Wechselmöglichkeiten in der Weiterbildung, dokumentiert andererseits auch das traditionelle Geschlechterverhältnis: In den Einrichtungen der Weiterbildung sind nach wie vor Frauen vor allem bei Leitungspositionen deutlich unterrepräsentiert.

Ein weiterer kritischer Einwand gegen Institutionen in der Weiterbildung verweist darauf, dass die Erwachsenen (damit sind zeitlich immerhin drei Viertel der individuellen Biographien bezeichnet) so viel lernen müssen jetzt und in Zukunft, dass die bestehenden Institutionen vor allem der Weiterbildung diesen Lernbedarf, diesen gesellschaftlichen Lernbedarf, gar nicht befriedigen können. Verwiesen wird dabei auf eine amerikanische Untersuchung, wonach Erwachsene ohnehin 80 % dessen, was sie lernen, nicht in Institutionen lernen. Und die Konsequenz dieses Arguments heißt: Investitionen in Institutionen der Weiterbildung lohnen nicht.

Dieser Punkt ist richtig, insofern er sich gegen die Alleinzuständigkeit von Institutionen für das Lernen wendet. Falsch daran ist, dass im Rahmen eines zu entwickelnden Konzepts des lebenslangen Lernens alle Institutionen des Bildungsbereiches in ein offeneres System gebracht werden müssen, das sie miteinander vernetzt und in vernünftige Kontexte selbstorganisierter Lernprozesse einbaut. Zudem ist das Argument insofern unehrlich, als gerade da, wo der gesellschaftliche Qualifikationsbedarf am größten ist (in der berufsbezogenen Weiterbildung) eine so hohe Refinanzierung und Kommerzialisierung besteht, dass die Bildungseinrichtungen sich weitgehend selbst tragen könnten.

Ebenso wenig schlüssig ist die Kritik an Institutionen, sie seien nicht ausreichend bedarfsorientiert. Gerade in der Weiterbildung ist dies nicht festzustellen. Im Gegenteil: Die Probleme der Bedarfsermittlung, die seit Bestehen eines abgesonderten Bildungssystems nicht gelöst sind, werden in Institutionen über ihre "Markterkundung" am direktesten und pragmatischsten gelöst. In der Weiterbildung sind es Einrichtungen, welche die Probleme des unterschiedlichen Tempos von Veränderungen der Arbeitswelt und Entstehung von Bildungsgängen sowie auch der Modularisierung von Lernelementen am ehesten pragmatisch und direkt verknüpfen, konkret etwas dazu beitragen, dass die Entkoppelung von Bildungs- und Beschäftigungssystemen bearbeitbar bleibt.

Alles in allem sind Institutionen der Weiterbildung unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Chancengleichheit im Bildungsbereich erhöht werden kann.

Ein "starres System" ist daher in der Weiterbildung nicht festzustellen, eher anders herum: Wie lassen sich die teilweise zu rasch vorgenommenen Änderungen von Bildungsgängen, Abschlüssen und Angeboten in der Weiterbildung, den ökonomischen und technischen Änderungen folgend, in ein Mindestmaß an Kontinuität einbetten? Das Stichwort der "mittleren Systematisierung" ist dabei wichtig, es formuliert Anforderungen an

  • Kooperation,
  • Qualität,
  • Professionalität,
verlangt den Aufbau von
  • Informationssystemen und
  • Beratungsangeboten,
  • die Einbeziehung von Modulen und Medien sowie die
  • Konzeption des lebenslangen Lernens, das ohne Institutionen nicht realisierbar ist.
Hier liegen wichtige Aspekte für die Erhöhung von Chancen und Gleichheit. Die Weiterbildung ist, soweit ich das überblicken kann, von allen Bildungsbereichen, was die Institutionen angeht, am stärksten lernerorientiert. Diesen wünschenswerten Aspekt kann man noch verstärken; staatliche Bildungsgelder könnten vermehrt statt in Institutionen in die Lernenden investiert werden, eine Vorhalte- und Angebotspolitik könnte verstärkt zu einer Nachfragepolitik werden.

Die Bildungsgutscheine und die neuen Überlegungen zu einem "Learner's account" sind hier interessante Ansätze. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass bereits jetzt Teilnehmende auch an öffentlich geförderten Einrichtungen wie den Volkshochschulen zwischen 35 und 90 % der Kosten tragen. Diese finanzielle Last hat zugleich den Effekt, dass die Lernenden einen wesentlichen Anteil an der Definition des Gelernten haben.

Eher notwendig scheint es hier zu sein, die Gleichheit der Zugangschancen zu gewährleisten, in dem denjenigen Menschen, die die "Eintrittspreise" in Weiterbildung nicht mehr bezahlen können, finanzielle Unterstützung zukommt. Alles in allem, und dabei bleibe ich, sind Institutionen der Weiterbildung unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Chancengleichheit im Bildungsbereich erhöht werden kann. Natürlich stellt sich die Frage, wie Institutionen ausgestaltet sein müssen, um diese notwendige Funktion zu erfüllen.

Wie sehen die Voraussetzungen für Chancengleichheit in den Institutionen aus?

Oder zunächst:

Welche Institutionen sind überhaupt zuständig?

Wenn man den Weiterbildungssektor betrachtet, stellt man fest, dass es deutliche Unterschiede gibt zwischen denjenigen Institutionen, die im Bereich der allgemeinen, und denjenigen, die im Bereich der beruflichen Weiterbildung tätig sind. In der allgemeinen Weiterbildung werden die meisten Angebote von Volkshochschulen (32 %) gemacht, gefolgt von sonstigen vorgegebenen und nicht vorgegebenen Trägern (22 %), privaten Instituten (10 %), Verbänden (9 %), kirchlichen Stellen (7 %), nicht kirchlichen Wohlfahrtsverbänden (6 %), Arbeitgebern und Betrieben (6 %) und Hochschulen (5 %).

Bei der beruflichen Weiterbildung verschiebt sich das Trägerspektrum grundlegend; hier dominieren die Arbeitgeber und Betriebe mit 48 %, es folgen die vorgegebenen und nicht vorgegebenen Träger (13 %), die privaten Institute (10 %), die Kammern (9 %), die Berufsverbände (6 %), die Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften (4 %), die Volkshochschulen (4 %) sowie die Hochschulen (3 %).

Es gibt also je nach Ausrichtung der Weiterbildung einen "gespaltenen" institutionellen Weiterbildungssektor. Die Volkshochschulen, nach wie vor gemeinhin das institutionelle Flaggschiff der Weiterbildung, stellen danach nur knapp ein Fünftel des Gesamtangebots der Weiterbildung.

Dennoch werden, wenn es um institutionelle Voraussetzungen geht, meist die Volkshochschulen betrachtet, nicht zuletzt deshalb, weil über sie die beste Datenlage existiert. Fragt man nach Chancengleichheit unter den Teilnehmenden, so kann man die Volkshochschuldaten am gezieltesten auswerten. Es zeigt sich, dass in diesen Institutionen - darauf habe ich hingewiesen - die Frauen drei Viertel der Teilnehmenden stellen. Bei den Altersgruppen ist diejenige zwischen 35 und 49 am stärksten vertreten; jüngere Altersgruppen finden sich bei Schulabschlusslehrgängen und in Angeboten der Grundbildung, Ältere besuchen eher Angebote zu Politik und Gesundheit. Männer finden sich stärker in berufsbezogenen Angeboten sowie in Angeboten zur Politik, bei Angeboten zur Gesundheit und Kultur aber eher die "benachteiligten" Gruppen.

Es bedarf eines politischen Konzeptes, das "Chancengleichheit" als Begriff neu definiert und in Beteiligung und Benachteiligung im Bildungsbereich spiegelt.

Direkte Angebote für Zielgruppen werden auch an Volkshochschulen, die den höchsten öffentlichen Refinanzierungsanteil in der offenen Weiterbildung haben, nur zu etwa 10 % des Gesamtangebots gemacht. So gibt es nur relativ wenige Angebote für Arbeitslose, Ältere, Analphabeten und Menschen mit ausländischer Herkunft.

Zu anderen Institutionen liegen wenig konkrete Daten hinsichtlich Chancengleichheit vor. Sicherlich kann man etwa sagen, dass an der betrieblichen Weiterbildung, die gerade im Bereich beruflicher Qualifizierung dominiert, Arbeitslose nicht partizipieren, ein Kreislauf, der das Gegenteil von erhöhter Chancengleichheit zur Konsequenz hat. Komplementäre Angebote berufsqualifizierender Weiterbildung für Arbeitslose außerhalb von Betrieben sind vielfach nicht in ausreichender Breite und Dichte vorhanden.

Institutionen privater Art wie etwa Sprachschulen setzen hohe Zugangsbarrieren durch das Teilnahmeentgelt, wirken also selektierend. Es ist nach wie vor nicht sichergestellt, dass im Zusammenwirken der Institutionen in der Weiterbildung auch mit Blick auf die außerhalb der Institutionen liegenden Lernmöglichkeiten ausreichende Chancengleichheit realisiert wird. Hier bedarf es jedoch auch eines politischen Konzeptes, das "Chancengleichheit" als Begriff neu definiert und in Beteiligung und Benachteiligung im Bildungsbereich spiegelt.

Wie lassen sich bestehende Benachteiligungen aufheben und Chancengleichheit erhöhen?

Es gibt keine ausreichende Diskussion darüber, inwiefern sich in den Beteiligungen von Menschen an Weiterbildung Nachteile oder aber eine Benachteiligung ausdrücken. Die Unterrepräsentanz einzelner Personengruppen bedeutet nicht notwendigerweise ihre geringeren Chancen zur Bildungsteilnahme. So lässt sich etwa ein Zusammenhang herstellen zwischen
  • ländlichem Wohnort und flächendeckendem Bildungsangebot,
  • Entgelten und sozialer Lage,
  • Angebotsinhalten und -formen einerseits sowie
  • Geschlecht und Berufstätigkeit andererseits.
Allerdings ist zu unterscheiden zwischen strukturellen Nachteilen wie Anfahrtswegen und Belastungen einerseits sowie einer aktiven Benachteiligung von Personengruppen andererseits. Letztere setzt unmittelbare Entscheidungen und Prioritäten voraus.

Aktive Benachteiligungen beispielsweise lassen sich in den letzten zwanzig Jahren in Volkshochschulen nachweisen, wenn es um Angebote für Frauen geht, um den Aufbau von Fachbereichen, Personalkapazitäten und Geldern. Diese Kämpfe um den Bereich "Frauenbildung" scheinen derzeit aber institutionell ausgestanden zu sein. Heutige institutionelle Benachteiligungen erfolgen stärker durch einrichtungsinterne Refinanzierungskämpfe. Sie werden teilweise bewusst und offen geführt mit dem "Robin Hood-Prinzip", der erhöhten Einnahmen in speziellen Bereichen (derzeit Gesundheit, EDV, Sprachen) und der Mitfinanzierung zuschussträchtiger Bereiche (vor allem Alphabetisierung, politische Bildung, Ausländerarbeit). Es zeigt sich aber auch, dass dieses "Robin Hood"-Prinzip Grenzen hat und in verschiedenen Einrichtungen an Bedeutung verliert. Dies gilt insbesondere dort, wo der Anteil öffentlicher Mittel immer weiter zurück geht - viele Volkshochschulen sind dabei ein Beispiel.

Sicherlich dient zur verbesserten Chancengleichheit der Aufbau von Supportstrukturen; Gruppen mit "Nachteilen" brauchen Support (Informationen, aufsuchende Bildungswerbung, Angebote vor Ort etc.). Auch diskutiert wird ein Ansatz mit institutionellem Ausbau; das Problem ist aber, dass dieser Ausbau nicht unbedingt mit dem Ziel erhöhter Chancengleichheit erfolgt. Vielfach stehen dem auch interne Strukturen entgegen. Ein weiteres Argument ist, institutionelle Chancengleichheit über den Markt zu erhöhen. Hier sind eher Bedenken angebracht. Es zeichnet sich eine Entwicklung ab, die dem Medienbereich ähnelt, eine Novellierung des Angebotes auf der Ebene des Nachgefragten und Finanzierten, nicht jedoch eine zielgerichtete Angebotsinduktion und Chancenverbesserung.

Auch der Gedanke, Medien könnten in Verbindung mit Bildungsinstitutionen zur erhöhten Chancengleichheit beitragen, ist noch wenig plausibel. Voraussetzungen für mediales Lernen, der Zugang zu und der Umgang mit Medien definiert hohe Schwellen bei ungleichen Voraussetzungen. Hier sind eher noch neue Linien von Chancenungleichheit erwartbar.

Alles in allem: Wir müssen, wenn das Ziel erhöhter Chancengleichheit auf Institutionen hin operationalisiert werden soll, neue Konzepte definieren, welche lebenslanges Lernen, veränderte soziale Strukturen wie auch veränderte institutionelle Voraussetzungen in Rechnung stellen. Auch wenn das Chancengleichheitspostulat früherer Zeiten nach wie vor Gültigkeit hat, so sind doch die konkreten Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind, heute anders zu beschreiben als vor gut 20 Jahren.


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Einführung/Thesenpapier/
Bericht

- Prof. Dr. Peter Faulstich

Round-Table 1:
Weiterbildung, soziale Barrieren und Gender-Mainstreaming
- Prof. Dr. Christiane Schiersmann

Round-Table 2:
Solidarität und Kulturelle Vielfalt als Leitbild für die Institutionen der Erwachsenenbildung
- Prof. Dr. Ekkehard Nuissl
- Theo Länge
- Dr. Karin Derichs-Kunstmann

Round-Table 3:
Soziale Gerechtigkeit und Weiterbildungspolitik
- Dr. Eva-Maria Bosch