Potsdamer Konferenz - Forum III

Stefanie Wahl

Ein gesellschaftspolitischer Blick auf das Konzept der Chancengleichheit

Ist Chancengleichheit ein realistisches Konzept?

Trotz erheblicher Anstrengungen des Bildungssystems ist bisher das Ziel der Chancengleichheit nicht erreicht worden. Warum? Weil es nicht erreicht werden kann. Es wird immer begabte und weniger begabte, motivierte und weniger motivierte, kontaktfreudige und weniger kontaktfreudige, naturwissenschaftlich und geisteswissenschaftlich orientierte, intellektuell und praktisch begabte Schüler - und Lehrer - geben. Die Chancen dieser unterschiedlichen Schüler in den jeweiligen Bereichen werden nie gleich sein.

Allerdings können gewisse Unterschiede abgebaut bzw. gewisse Schwächen durch die Schule kompensiert werden. Dazu gehört, sich zunächst der Unterschiede bewusst zu werden und ihre Ursachen aufzudecken (z.B. individuelle Veranlagung und Neigungen, Geschlecht, Familien- oder Einkommenssituation, Nationalität u.a.m.). Dazu gehört auch, dem Einzelnen positive Neigungen und Begabungen bewusst zu machen bzw. zu fördern. Und dazu gehört schließlich, dem Einzelnen entsprechend seiner Begabung gleichwertige Zugangschancen zu Bildung zu ermöglichen.

Daraus folgt zwangsläufig: Das Schulsystem muss differenziert und vielfältig sein, um fruchtbare Unterschiede zu fördern, aber auch um entsprechende Nachteile kompensieren zu können. Nur durch Differenzierung und Vielfalt kann die Schule dem Individuum, seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten gerecht werden (auf welche Art und Weise und in welcher Form muss diskutiert werden). Die Fiktion, alle seien gleich, führt zu Ungerechtigkeit. Leistungsschwache werden über-, Leistungsstarke unterfordert. Zudem werden Wissens- und Könnensressourcen vergeudet.

Worauf müssen wir uns im Bereich der Erwerbsarbeit künftig vorbereiten?

Der Befund u.a. auch von der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen lautet: Aufgrund tiefgreifender Veränderungen von Produktions- und Beschäftigungsbedingungen (Globalisierung, Rationalisierung) geht die arbeitnehmerzentrierte, erwerbsarbeitsorientierte Industriegesellschaft, in der Arbeitgeber und Staat für Erwerbseinkommen und Daseinsvorsorge zuständig sind, ihrem Ende entgegen. Sie wird abgelöst durch eine unternehmerische Wissensgesellschaft, in der der Einzelne immer stärker zum Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft wird, unabhängig davon, ob er abhängig beschäftigt oder selbständig ist. Was heißt das konkret?

Nur durch Differenzierung und Vielfalt kann die Schule dem Individuum, seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten gerecht werden. Die Fiktion, alle seien gleich, führt zu Ungerechtigkeit.

Ein immer größerer Teil der Wertschöpfung wird bereits heute von Wissen und Kapital erbracht. Die Wirtschaft wird immer wissens- und kapitalintensiver und immer arbeitskräftesparender, insbesondere im Bereich standardisierbarer, hoch produktiver und damit gut bezahlter Tätigkeiten. Wissen wird menschengebunden, aber auch zunehmend menschenungebunden eingesetzt: In kleinen schwarzen Kästchen, die in menschenleeren Fabrikhallen Autos produzieren. Folglich geht die Arbeitskräftenachfrage in besonders attraktiven Bereichen der Volkswirtschaft zurück. Die Erträge der Wertschöpfung fließen zunehmend an Wissen und Kapital und abnehmend an Erwerbsarbeit, d.h. die Arbeitnehmer. Die Folge ist wachsende Einkommensungleichheit - auch innerhalb der Arbeitnehmerschaft.

Diese Trends werden künftig anhalten. Anhalten werden auch die Veränderungen bei der Qualität der Erwerbsarbeit. Diese wird zügig weniger standardisiert und stabil. Wie in der Vergangenheit werden auch in Zukunft dauerhafte, arbeits- und sozialrechtlich abgesicherte Vollzeitarbeitsverhältnisse zunehmend durch so genannte Nicht-Normarbeitsverhältnisse wie Teilzeit, geringfügige Beschäftigung u.ä. ersetzt. Nicht zuletzt durch die technischen und organisatorischen Möglichkeiten der Informations- und Kommunikations-Technologien wird in Zukunft Erwerbsarbeit abnehmend in festgefügten Strukturen, und vermehrt in wechselnden Projektgruppen und Teams erbracht.

Sie wird dadurch vielfältiger, diversifizierter und örtlich ungebundener. Gearbeitet wird künftig zunehmend in hierarchisch schwach gegliederten Gruppen, in denen der Einzelne immer häufiger selbst bestimmt, wann und wie er arbeitet. Viele Erwerbspersonen werden im Laufe ihres Erwerbslebens zwischen Phasen abhängiger Beschäftigung und Phasen selbständiger Tätigkeit sowie Phasen der Erwerbslosigkeit pendeln oder nebeneinander mehrere abhängige Tätigkeiten bzw. abhängige und selbständige Tätigkeiten ausüben.

Mit zunehmender betriebsungebundener Projektarbeit auf individueller Vertragsbasis werden auch die Erwerbseinkommen variabler und unregelmäßiger. Die Entlohnung wird sich weniger an der Anwesenheit im Betrieb und mehr an den Arbeitsergebnissen orientieren. Auch dadurch entfernt sich die Erwerbsarbeit immer mehr von der klassischen Lohn- und Betriebsarbeit. Damit verringert sich ihre integrative gesellschaftliche Kraft.

Vor dem Hintergrund dieser Veränderungen im Bereich regulärer Erwerbsarbeit wird die arbeits-markt- und gesellschaftspolitische Bedeutung von Tätigkeiten außerhalb von Erwerbsarbeit zunehmen. Nicht zuletzt, weil aufgrund des qualitativen Wandels der Erwerbsarbeit die Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und Tätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit fließender werden. Flache Hierarchien, dezentrale Strukturen und Projektbezogenheit kennzeichnen nicht nur viele nicht-marktfähige und unentgeltliche Tätigkeiten, sondern eben auch zunehmend die Erwerbsarbeit. Mit der Annäherung bestimmter entgeltlicher an unentgeltliche Tätigkeiten gewinnen auch die im Letzteren vermittelten Qualifikationen, Kompetenzen und Prägungen an Bedeutung.

Erfolgreiches Agieren im Rahmen nicht-marktfähiger Projekte dürfte künftig die Chancen auf Beschäftigung im Bereich regulärer Erwerbsarbeit verbessern. Gemeinwohlorientierte Projekte könnten damit in Zukunft verstärkt als Sprungbrett für Professionalisierung und Beschäftigung dienen. Dadurch nimmt die gesellschaftliche Zentrierung um die Erwerbsarbeit ab. Folglich entsteht Freiraum für neue Formen der Sinngebung und Identitätsfindung.

Der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen zufolge muss die Schule - differenziert nach natürlichen Begabungen - die Persönlichkeit formieren, eine gründliche Allgemeinbildung gewährleisten und auf Arbeitswelt, Erwerbsleben, Existenzsicherung sowie die Lösung komplexer Zukunftsaufgaben vorbereiten.

Frauen sind auf viele der skizzierten qualitativen Veränderungen der Erwerbsarbeit mindestens ebenso gut, möglicherweise sogar besser vorbereitet als Männer. Hierarchiefreies Arbeiten, das Ausüben mehrerer Tätigkeiten gleichzeitig, Eigeninitiative und selbständiges Arbeiten ist Frauen nicht unbekannt. Projektorientiertes Arbeiten dürfte darüber hinaus ihren Bestrebungen, Familie und Erwerbsarbeit zu vereinbaren, durchaus entgegenkommen (natürlich auch Männern!).

Welche Anforderungen werden künftig an die Qualifikation der Erwerbstätigen bzw. der Tätigen gestellt?

Sie werden immer differenzierter und komplexer. In einer Wissensgesellschaft ist es essenziell, ständig neues Wissen zu akquirieren und sich entwerteten Wissens zu entledigen. Folglich müssen Lernprozesse beschleunigt, verbreitert und perpetuiert werden. Fest steht, dass Ausbildungsplatzbewerber ohne Schulabschluss deutlich geringere Chancen auf einen Ausbildungsplatz haben. Und gering qualifizierte Arbeitskräfte sind überdurchschnittlich arbeitslos. Aber eine berufliche Qualifikation schützt nicht immer vor Arbeitslosigkeit.

So ist die Arbeitslosigkeit von Frauen mit männertypischem Studium höher als bei Frauen mit frauentypischem Studium! Ein Teil der Erwerbstätigen muss immer höher qualifiziert werden, um die immer leistungsfähigeren Maschinen entwickeln, reparieren und bedienen zu können. Sie benötigen überdurchschnittliche Fähigkeiten in den unterschiedlichsten Gebieten. Um diese Menschen entbrennt ein immer schärferer globaler Wettbewerb.

In der rasch alternden deutschen bzw. europäischen Gesellschaft wird daneben die Nachfrage nach Arbeitskräften zunehmen, die arbeitsintensive personenbezogene, d.h. niedrig produktive und damit vergleichsweise gering bezahlte Dienste erbringen. Diese Personen müssen vor allem über die Fähigkeit der Fürsorge, praktischen Verstand, Ausdauer und Verantwortungsbewusstsein verfügen. Eine besonders hohe formale Qualifikation benötigen sie nicht unbedingt - dafür aber hohe soziale Kompetenz. In diesem Bereich besteht grundsätzlich keine Arbeitskräfteknappheit.

Allerdings müssen im Bereich personenbezogener Dienste zunächst bestehende Kosten- und mentale Hemmnisse überwunden werden, um den wachsenden Bedarf befriedigen und das beschäftigungspolitische Potenzial dieser Dienste erschließen zu können. Inwieweit bei letzterem der Bildungsbereich einen Beitrag leisten kann, ist zu diskutieren. Dazwischen ist der große Bereich von formal gut bis durchschnittlich qualifizierten Menschen zu sehen, die über ausreichende Kompetenz im sozialen und Medienbereich, Eigeninitiative und hohe Einsatzbereitschaft verfügen müssen, um künftig ihre Existenz in eigener Regie sichern zu können.

Was sind die Schlussfolgerungen für Schulsystem und Schulbildung?

Der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen zufolge muss die Schule - entsprechend der natürlichen Begabungen - die Persönlichkeit formieren, eine gründliche Allgemeinbildung gewährleisten und auf Arbeitswelt, Erwerbsleben, Existenzsicherung sowie die Lösung komplexer Zukunftsaufgaben vorbereiten. Dabei müssen gezielt Eigenschaften wie Selbständigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Eigeninitiative und Leistungsbereitschaft entwickelt werden. Hierzu gehört auch die Vermittlung der Fähigkeit, mit Unsicherheiten umzugehen. Darüber hinaus müssen Team- und Kommunikationsfähigkeit gestärkt werden. Um sein Leben selbstverantwortlich gestalten zu können, braucht der Einzelne eine Allgemeinbildung, die ihn urteilsfähig werden lässt.

Hierzu gehört die Beherrschung elementarer Kulturtechniken, insbesondere mindestens einer, besser zweier Fremdsprachen, was auch die Erschließung bzw. Förderung dieses Potenzials bei zugewanderten Jugendlichen bedeutet. Allgemeinbildung ist Voraussetzung für die Fähigkeit, weiter zu lernen. Sie ist darüber hinaus wichtiges Instrument zum Aufbau einer kulturellen Identität, die unabhängig ist vom Status im Erwerbsleben und damit ein Vehikel zur Integration von jungen Zuwanderern. Zur Allgemeinbildung gehört schließlich auch die Kenntnis elementarer wirtschaftlicher Zusammenhänge.

Allgemeinbildung ist Voraussetzung für die Fähigkeit, weiter zu lernen. Sie ist darüber hinaus wichtiges Instrument zum Aufbau einer kulturellen Identität, die unabhängig ist vom Status im Erwerbsleben und damit ein Vehikel zur Integration von jungen Zuwanderen.

Entscheidend für die Vorbereitung auf die unternehmerische Wissensgesellschaft ist, Fähigkeiten und Orientierungen zu entwickeln und zu wecken, die aus der Arbeitnehmer-Haltung herausführen. Den Kindern müssen Fähigkeiten und Orientierungen vermittelt werden, die sie zu Initiatoren von neuen Ideen, Dienstleistungen und Netzwerken machen. Wichtig ist, dass sie später ihre Tätigkeiten selbst erfinden, schaffen und sichern können. Hierbei kann frühzeitiges Einüben helfen.

Gute Ansätze hierfür bieten Schüler-Unternehmungs-Programme und Wettbewerbe (Young Enterprise Europe - YEE; Wettbewerb um bestes Miniunternehmen mit europaweit 90.000 Schülern). All dies kann in einem vielgliedrigen, profilierten Schulsystem mit höchst unterschiedlichen Bildungsgängen, in Ganztags- oder Vormittagsschulen, mit unterschiedlichsten Schwerpunkten geschehen. Entscheidend für die Gewährleistung von mehr Vielfalt ist mehr Autonomie für die einzelne Schule bei der Verwendung ihrer finanziellen Mittel, der Auswahl von Schülern und Lehrern, der Gestaltung des Unterrichts.

Auch die Lehrer müssen sich verändern. Um unternehmerische Verhaltensweisen vermitteln zu können, müssen sie sich selbst unternehmerischer verhalten. Damit ist die Verbeamtung der Lehrer nicht mehr plausibel. Sie sollte abgeschafft werden.


nach oben

Einführung/Thesenpapier/
Bericht

-Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland

Round-Table 1:
Rahmenbedingungen schulischer Arbeit:
- Stefanie Wahl
- Norbert Hocke

Round-Table 2:
Auslese und Förderung - Förderung statt Aussonderung:
- Sonja A. Schreiner
- Prof. Dr. Ulf Preuss-Lausitz

Round-Table 3:
Wege zur Überwindung von Benachteiligungen
- Ingrid Wenzler
- Sybille Volkholz