Potsdamer Konferenz - Forum III

Prof. Dr. Ulf Preuss-Lausitz

Migrantenkinder 2000:
Ausgangslage für eine Verbesserung der Chancengleichheit im Bildungssystem

Mehr Chancengleichheit für die Kinder der Zuwanderer der letzten Jahrzehnte ist nicht nur eine Aufgabe der Schulpolitik, sondern greift weit in die Entwicklung der Gesamtgesellschaft hinein. Sie ist zugleich eine Frage nach dem Abbau "ausländer"feindlicher Haltungen der Bevölkerung, vor allem in großen Teilen Ostdeutschlands. Die Verbesserung der Bildungschancen von Migrantenkindern stärkt damit zugleich die gesamte Zivilgesellschaft. Ich will zuerst die Lage der Migrantenkinder innerhalb des Bildungssystems beschreiben und daraus 15 konkrete Möglichkeiten vorschlagen, wie Verbesserung von Chancengleichheit umgesetzt werden kann. Auf Belege verzichte ich hier, weil sie an anderer Stelle nachlesbar sind(1).

Migrantenkinder haben im Bildungssystem die Position eingenommen, die die deutschen Arbeiterkinder vor 40 Jahren hatten: Viele scheitern, wenige sind erfolgreich aufgestiegen. (20 % erhalten keinen Hauptschulabschluss, weniger als 10 % erreichen das Abitur.) Die Differenz zwischen Jungen und Mädchen ist hierbei übrigens gering.

Migrantenkinder scheitern auch überdurchschnittlich in der zivilgesellschaftlichen Sozialisation: Der Anteil der kriminellen und der politisch abseits stehenden Jugendlichen ist unakzeptabel hoch.

Grund ist erstens das zu geringe "kulturelle Kapital" und eine unterentwickelte Offenheit vieler Familien innerhalb einer auf Wissen, Zivilgesellschaft und Offenheit beruhenden "Risikogesellschaft". Der erfolgreiche moderne Sozialcharakter - u.a.

  • Unsicherheiten auszuhalten,
  • unterschiedliche Lebensstile zu akzeptieren,
  • Differenzen innerhalb der Familie nicht hierarchisch, sondern verhandelnd auszutarieren,
  • das Individuum als "Planungsbüro für das eigene Leben" anzusehen usw. -
wird nicht zureichend sozialisiert.

Grund ist zweitens ein Schul- und Ausbildungssystem, das mit herkömmlichem deutschen Personal, Curriculum und Profil nicht anschlussfähig an die familiale Sozialisation ist. Der "Mittelschichtcharakter" der Schule ist zudem noch ein deutschzentristischer Charakter und benachteiligt so doppelt Arbeiterkinder (und Kinder von Landarbeitern) aus anderen Herkunftsländern.

Migrantenkinder haben im Bildungssystem die Position eingenommen, die die deutschen Arbeiterkinder vor 40 Jahren hatten: Viele scheitern, wenige sind erfolgreiche Aufsteiger.

Grund ist drittens der bisherige Ausschluss der Migranten-Jugendlichen und -Erwachsenen aus dem öffentlichen Leben. Die Gesellschaft ist bislang selbst nicht anschlussfähig an die Existenzprobleme der Migranten.

Anschlussfähig heißt nicht, sich anzupassen an vermeintliche ethnische Kulturen. Es heißt, sich offensiv und mit klugen kooperativen Strategien in eine Auseinandersetzung zu begeben.

Bildungspolitik allein kann nicht Schulversagen und zivilgesellschaftliches Versagen überwinden. Dazu gehören Arbeitsmarktpolitik, Ausbildungspolitik, Jugendpolitik, Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit, Wohnungspolitik, Stadtplanung, Kulturpolitik usw.

Das neue Staatsbürgerrecht ab dem Jahr 2000 ist ein seit Jahrzehnten dringend nötiger grundsätzlicher Schritt: Alle hier geborenen Migrantenkinder sind Deutsche, und es hängt nur von ihnen ab, ob sie es (nach 23 Jahren) bleiben wollen. Die "Mehmet-Lösung" ist nicht mehr möglich. Das bedeutet, dass der gesamten Politik die Abschiebungs- und Aussperrungs-Straf-Wünsche versperrt sind. Nicht nur die Schule, aber auch sie, muss sich nun "endgültig" auf eine ethnisch gemischte Gesellschaft einlassen. Das ist keine Garantie für richtige Wege: Das Beispiel Frankreich zeigt es.

Ohne die Einbeziehung der Einwanderer-Organisationen und erfolgreicher einzelner Migranten in sozialpolitische, kulturelle, arbeits-marktbezogene und bildungspolitische Projekte sind alle Maßnahmen rein fürsorglich und zum Scheitern verurteilt.

Die Einbeziehung aller Seiten macht Sinn, wenn alle sich auf ein Grundverständnis der Zivilgesellschaft Europas verständigen: Kulturelle Vielfalt einerseits, Ausbau der demokratischen Möglichkeiten Einzelner andererseits und drittens soziale und individuelle Sicherheit. Es muss eine gemeinsame Gesprächs- und Verabredungsebene entwickelt werden. Sie sollte die Grundlage sein, auf der nichthierarchische Differenzen - zwischen Gruppen, aber auch zwischen Einzelnen "innerhalb" dieser Gruppen - als demokratische Pluralität die Grundlage der modernen Zivilgesellschaft darstellen.

Aus dieser Beschreibung der Ausgangslage leite ich 15 Forderungen an eine für Migrantenkinder förderliche Schule und Schulpolitik ab:

1.

Einbeziehung der Herkunftssprachen in Vorschule und Grundschule: zweisprachige Kompetenzen deutscher Lehrer (Anreize), zweisprachige Alphabetisierung; Zusatzkurse im Erwerb der Schrift in Herkunftssprachen.

2.

Vermeidung aller Sonderklassen für Migrantenkinder. Sie sind weder lerneffektiv (schon gar nicht im Erwerb der deutschen Verkehrssprache) noch überwinden sie die partielle Gettoisierung der Schülerinnen und Schüler.

In das Schulprogramm ist jedes Jahr ein realistischer Punkt aufzunehmen, der die schulische und ggf. soziale Verbesserung der Migrantenkinder betrifft.

3.

Beendigung der Möglichkeit, Migranten in Sonderschulen für Lernbehinderte abzuschieben. Da deren Anteil doppelt so groß ist, wie es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht, dient die Abschiebung vieler Migrantenkinder in Sonderschulen nur der Erleichterung der abschiebenden Schule, nicht den betroffenen Kindern selbst. Die sonderpädagogischen Lehrerstellen sollten in allgemeine Schulen überführt werden, wo sie effektiver eingesetzt werden können.

4.

Ausweitung der Einbeziehung von Lehrern aus zentralen Herkunftsländern, gleiche Finanzierung (ggf. Änderung des Besoldungsrechts oder Sonderregelungen), Einsatz auch im normalen Unterricht als Fachlehrer; Werbung unter Migranten-Abiturienten für Lehramt. Bislang wird die Ressource erfolgreicher Migrantenkinder zu wenig offensiv eingeworben. So wie wir mehr Polizisten, Jugendarbeiter, Fernsehmoderatoren usw. anderer Herkunft brauchen, so brauchen wir - zur Verbesserung von Chancengleichheit und gesellschaftlicher Akzeptanz - mehr Lehrerinnen und Lehrer verschiedener ethnischer Herkünfte aus der 2. und 3. Generation.

5.

Einbeziehung von Künstlern, Geschäftsleuten, Sportlern, sozialen Aktivisten in Vereinen aus Herkunftsgruppen in extracurriculare Angebote ("KIDS", Künstler in die Schule u.a.).

6.

Erfolgreichen Migrantenjugendlichen/Jungerwachsenen (Selbständige, Dienstleister, Künstler, Akademiker, Handwerker usw.) die Möglichkeit bieten, in regelmäßigen Veranstaltungen im Unterricht und bei großen Schulereignissen den Kindern konkrete Perspektiven zu zeigen, auch unter dem Aspekt der Einschätzung erfolgreicher Schulkarrieren.

7.

Einführung mehrsprachiger Beschriftungen im gesamten Schulkomplex, und zwar nicht nur in deutsch/türkisch und nicht nur im Sekretariat. (Das können die jeweiligen Schülerinnen und Schüler selbst als ihr Projekt bestimmt originell realisieren.)

8.

Mehrperspektivisches Curriculum systematisch entwickeln und erproben. (Einrichtungen von Kommissionen analog der deutsch-polnischen Schulbuchkommission), in Geschichte, Literatur, Kunst, Sprachen, warum nicht auch im Sport, in Mathematik, in Naturwissenschaften?

9.

Deutsch-Lern-Kurse für Eltern/Mütter von Migrantenkindern am Vormittag mit gleichzeitiger Sicherung der Betreuung ihrer kleineren Kinder anbieten. (Gute Erfahrungen aus Berlin liegen hier vor und sollten empirisch ausgewertet werden.)

10.

Vereinbarungen mit den Migranten-Vereinen usw. über Kooperationsprojekte, für die das Schulhaus am Nachmittag genutzt wird.

11.

Angebote von Nachhilfekursen und anderen AGs für Schülerinnen und Schüler durch qualifizierte Migrantenjugendliche/-Studierende in den Schulen sozialer Brennpunkte.

12.

Ausstellungsmöglichkeiten in der Schule für die Darstellung der Kunst von Migranten und von Veranstaltungen der Kultur-Vereine schaffen.

13.

Im Schulprogramm jedes Jahr einen - realisierbaren - Punkt aufnehmen, der die schulische und ggf. soziale Verbesserung der Migrantenkinder betrifft.

14.

Im jährlichen Rechenschaftsbericht der Schule die Erfolge und Misserfolge selbstkritisch aufarbeiten und Schlüsse für die künftige Arbeit ziehen (Evaluation).

15.

Regionale Auswertungskonferenz etwa alle zwei Jahre, zusammen mit den Migrantenvereinen, den Jugendämtern, ggf. wo vorhanden den Stadtteilkonferenzen o.ä.

Das ist keine systematische Liste von Vorschlägen, sondern ein Feld von nicht vollständigen Anregungen, die sich jedoch auf die unterrichtliche und soziale Stärkung der Migrantenkinder und zugleich auf die Erhöhung der Akzeptanz von "Vielfalt in der Gemeinsamkeit2 " in einer zukunftsfähigen und sozial gerechteren Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert richtet.

Fußnoten:

  • 1 Preuss-Lausitz, Ulf: Bildungsprozesse von Migrantenkindern zwischen Modernisierung und Entfremdung. In: Die Deutsche Schule, H. 1/2000
  • 2 Preuss-Lausitz, Ulf: Die Kinder des Jahrhunderts. Zur Pädagogik der Vielfalt im Jahr 2000. Weinheim und Basel 1993.


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Einführung/Thesenpapier/
Bericht

-Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland

Round-Table 1:
Rahmenbedingungen schulischer Arbeit:
- Stefanie Wahl
- Norbert Hocke

Round-Table 2:
Auslese und Förderung - Förderung statt Aussonderung:
- Sonja A. Schreiner
- Prof. Dr. Ulf Preuss-Lausitz

Round-Table 3:
Wege zur Überwindung von Benachteiligungen
- Ingrid Wenzler
- Sybille Volkholz