Potsdamer Konferenz - Forum II

Hermann Rademacker

Chancengleichheit und Berufswahl

All unsere Untersuchungen, sowohl der regional vergleichende qualitative Längsschnitt zum Übergang Schule-Beruf in München und Duisburg (Raab 1996) als auch die im Anschluss daran durchgeführten repräsentativen Befragungen zur Berufswahlsituation Jugendlicher in den Abgangs- und Vorabgangsklassen allgemeinbildender Schulen (Kleffner, Lappe, Raab, Schober 1996) zeigten eine ungetrübte Orientierung junger Menschen auf Arbeit. Es gibt heute keine nach irgendwelchen sozialen Merkmalen identifizierbare Gruppe junger Menschen, die sich ein Erwachsenenleben ohne Erwerbsarbeit vorstellt und sie meinen damit in der ganz großen Mehrheit auch Erwerbsarbeit auf der Grundlage einer Berufsausbildung.

Diese grundsätzliche und nahezu selbstverständliche Orientierung auf qualifizierte Arbeit aber mischt sich mit einer erheblichen Unsicherheit hinsichtlich beruflicher Orientierungen und Berufswahlentscheidungen und mit einem erheblichen Mangel an Handlungskompetenz für die Bewältigung der Anforderungen des Übergangs.

Kennzeichnend für die Haltung junger Menschen gegen Ende ihrer Schulzeit und auch noch im Übergang von der Schule in den Beruf ist der Wunsch, sich Optionen offen zu halten. Dies ist einerseits ein Hinweis auf eine durchaus vorhandene Bereitschaft zu Flexibilität und ist insofern zeitgemäß und arbeitsmarktgerecht. Es darf aber durchaus auch als Vermeidungsverhalten gedeutet werden. In den letzten Jahren der allgemeinbildenden Schule bedeutet dies, dass neben Übergängen in eine Berufsausbildung von vielen auch die Möglichkeit erwogen wird, in irgendeiner Weise den Schulbesuch fortzusetzen, oft verbunden mit dem Wunsch, einen weiterführenden Bildungsabschluss zu erreichen.

Es gibt heute keine nach irgendwelchen sozialen Merkmalen identifizierbare Gruppe junger Menschen, die sich ein Erwachsenenleben ohne Erwerbsarbeit vorstellt.

Diese Unentschlossenheit hinsichtlich der zunächst zu vollziehenden Schritte führt dann oft dazu, dass weder die Orientierung auf eine Berufsausbildung noch die auf eine Fortsetzung des Schulbesuchs wirklich ernsthaft verfolgt werden. Oft fehlen diesen Ambitionen auf weiterführende Bildungsabschlüsse auch die Voraussetzungen hinsichtlich der Schulleistungen und der dementsprechend zu erwartenden schulischen Zertifikate, oft werden sie auch unabhängig von den gegebenen objektiven Chancenstrukturen benannt. So hegten selbst Jugendliche, die - wie Anfang der 90er Jahre noch Hauptschülerinnen und Hauptschüler in Bayern - sich in einem Schulsystem befinden, das die entsprechende Durchlässigkeit gar nicht bietet, den Wunsch, die Schule bis zum mittleren Bildungsabschluss zu besuchen.

Kennzeichnend für die Situation von Jugendlichen am Ende der Schulzeit - und dies gilt insbesondere, aber keineswegs ausschließlich für Hauptschüler - ist weiter, dass die angebotenen Hilfen und Unterstützungsleistungen zur beruflichen Orientierung, also die Arbeitslehre mit ihren Betriebspraktika in der Schule und die Berufsberatung, die ihr Angebot in der Regel im vorletzten Schuljahr in der Schule vorstellt, ganz überwiegend von geringer Wirkung sind. Die wenigen Jugendlichen, die diese Angebote und Unterstützungsleistungen kompetent nutzen, haben immer auch auf eine erhebliche Unterstützung ihrer beruflichen Orientierungen durch die Familien hinweisen können. Es scheint also so zu sein, als ob die Kompetenz, von derartigen Angeboten im eigenen Interesse wirksam Gebrauch machen zu können, Lern- und Sozialisationsleistungen voraussetzt, zu denen die Schule selbst bisher kaum beiträgt.

Für die gewichtige Rolle der Familien und der sozialen Milieus für berufliche Orientierungen und das übergangsbezogene Handeln von Jugendlichen spricht auch, dass für die ganz überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen die Eltern nach wie vor die wichtigsten Gesprächspartner für Fragen der beruflichen Zukunft sind. Dies gilt auch dann, wenn sie - und auch dies ist wiederum die große Mehrheit - wenig helfen können. Dementsprechend rangieren dann in der Regel noch vor den Lehrern und der Berufsberatung die Freunde und Bekannten oder auch andere Verwandte als Gesprächspartner zum Thema Berufswahl.

Der geringe Beitrag, der Lehrern und Berufsberatung hinsichtlich der beruflichen Orientierung von den Jugendlichen zugeschrieben wird, geht dabei keineswegs einher mit einer Geringschätzung der Kompetenzen, die diesen Akteuren zugeschrieben werden. Im Gegenteil, die Jugendlichen unterstellen ihren Lehrerinnen und Lehrern ebenso wie der Berufsberatung eine sehr hohe Kompetenz und gehen davon aus, dass diese sich in der Arbeitswelt auskennen, aber es scheint hier so ähnlich wie mit schlechten Schulleistungen zu sein: Wer in Mathematik schlechte Noten bekommt, zweifelt deshalb noch lange nicht an den Kenntnissen und Fähigkeiten seiner Mathematiklehrer.

Aber auch Eltern, die durch Orientierungshilfen nicht oder wenig zum Gelingen des Übergangs ihrer Kinder beitragen können - und das spricht für das hohe Maß an Mitverantwortung, das sie sich in dieser Hinsicht abverlangen - tragen zur Bewältigung der neuen Risiken des Übergang wesentlich bei und zwar vor allem durch die Gewährung von Kost und Logis. Jugendliche bleiben immer länger im Elternhaus und rechnen damit, dass ihnen dies von den Eltern bis zum Gelingen der Einmündung in Beschäftigung auch gewährt wird. Eltern verbinden dies auch nicht mehr wie in früheren Jahrzehnten mit Auflagen hinsichtlich der Lebensführung der jungen Menschen, sondern gewähren hier große Freiheiten.

Arbeitsweltbezüge schulischen Lernens müssen schon in der Grundschule einen wesentlich höheren Stellenwert haben als heute.

Die neuartigen Anforderungen, die junge Leute im Übergang von der Schule in den Beruf zu bewältigen haben, haben zum einen mit der durch die Arbeitslosigkeit verschärften Konkurrenzsituation zu tun. Sie trifft vor allem diejenigen, die erstmalig auf dem Arbeitsmarkt in Erscheinung treten und Arbeit nachfragen. Das sind in erster Linie die jungen Menschen. Sozialstaatliche Interventionen haben in der Bundesrepublik in der Vergangenheit vor allem die berufliche Qualifizierung zum Ziel gehabt und damit die Arbeitslosigkeitsbetroffenheit Jugendlicher und junger Erwachsener begrenzt.

Diese Strategie hat vor allem dazu geführt, dass die Probleme des Übergangs von der ersten an die zweite Schwelle verlagert wurden und nun auch ausgebildete Jugendliche vor allem in den neuen Bundesländern verstärkt von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Beschäftigungsfördernde Maßnahmen müssen also einen erheblich größeren Stellenwert bekommen, als sie ihn in der Vergangenheit hatten. Sie haben deshalb zu Recht im Sofortprogramm der Bundesregierung einen deutlich höheren Stellenwert als bisher. Zusätzlich sind es die neuen Formen der Arbeitsorganisation und die Nutzung neuer Technologien, die die Qualifikationsanforderungen an modernen Arbeitsplätzen erheblich haben ansteigen lassen. Die Beschäftigungschancen unqualifizierter Jugendlicher sind in den letzten Jahren weit überproportional angestiegen (IAB Werkstattbericht Nr. 15/1998).

Zusätzlich fordert der Arbeitsmarkt selbst insbesondere von denjenigen, die sich nach befristeten Beschäftigungen immer wieder neu aus Phasen der Arbeitslosigkeit in das Beschäftigungssystem eingliedern müssen, erhebliche und neuartige Kompetenzen als Marktteilnehmer: Sie müssen selber dafür Sorge tragen , dass ihre Arbeitskraft einer vorhandenen Nachfrage entspricht und dass es ihnen gelingt, sie erfolgreich zu vermarkten.

Wenn es gelingen soll, junge Menschen für diese neuen Verhältnisse im Beschäftigungssystem zu ertüchtigen, dann muss der Beitrag der Schule zur Entwicklung von beruflichen Zukunftsvorstellungen wesentlich verbessert werden. Arbeitsweltbezüge schulischen Lernens müssen schon in der Grundschule einen wesentlich höheren Stellenwert haben als heute. Aber auch die Einbeziehung der Eltern und die Stärkung ihrer Rolle bei der Entwicklung von Lebensentwürfen scheint mir ein unverzichtbarer Bestandteil erfolgversprechender Konzepte zur Berufsorientierung Jugendlicher heute zu sein. Dazu müssen auch neue Formen der Zusammenarbeit der zuständigen Akteure entwickelt werden.

Für die Berufsberatung bedeutet es,
dass sie Eltern und Pädagogen - die der Schule ebenso wie die der Jugendhilfe - sehr viel stärker zu Adressaten ihrer Beratung machen muss und dies auch nicht nur im Hinblick auf die Schülerinnen und Schüler der Abgangs- und Vorabgangsklassen tun darf.

Für die Schule bedeutet es,
dass sie sich sehr viel entschiedener als es bisher der Fall ist, auch den alltäglichen Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen gegenüber öffnen muss und - wo immer es sinnvoll ist, in Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe - das Bündnis mit den Eltern sowohl für das Gelingen des Alltags der Kinder und Jugendlichen als auch für die Entwicklung realistischer Lebensentwürfe suchen muss. Die Arbeitswelt muss in ganz anderer Weise, als es bisher der Fall ist, zum Thema der Schule werden.

Die Erschließung von Einblicken in die Arbeitswelt und die Vermittlung von Erfahrungen aus der Arbeitswelt muss zum selbstverständlichen Bestandteil der Schule vom ersten Schuljahr an werden und die Beschäftigung mit der Frage, welches denn mögliche Verortungen des Einzelnen in der Arbeitswelt sein könnten und welche Bedingungen hinsichtlich Bildung und beruflicher Qualifizierung erfüllt werden müssen, wenn die Wege dorthin verwirklicht werden sollen, ist hinsichtlich ihres Bildungswertes wahrscheinlich kaum zu überschätzen.

Literatur:
Kleffner, Lappe; Raab, Schober: Fit für den Berufsstart? MatAB 3/96

Raab, Erich: Jugend sucht Arbeit. München 1996

Rheinberg, A.; Rauch, A.: Bildung und Arbeitsmarkt: Der Trend zur höheren Qualifikation ist ungebrochen. IAB Werkstattbericht 15/1998


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Einführung/Thesenpapier/
Bericht

- Veronika Pahl
- Maria-Eleonora Karsten/
  Christoph Ehmann

Round-Table 1:
Rahmenbedingungen beruflicher Bildung:

- Prof. Dr. Maria Eleonora Karsten
- Dr. Winfried Heidemann

Round-Table 2:
Chancengleichheit als
Auftrag für die duale
und schulische Berufsaus-
bildung

- Hermann Rademacker
- Ingo Schlüter