Potsdamer Konferenz - Forum I

Marion Lührig/Barbara Stiegler

Thesenpapier zum Thema
Chancengleichheit der Geschlechter durch Gender-Mainstreaming in Bildung und Beruf

1. Zur Definition von Chancengleichheit

Chancengleichheit im 21. Jahrhundert bedeutet mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse, dass die kulturell bedingten Geschlechterbilder und die ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Strukturen verändert werden. Weder Männer noch Frauen dürfen aufgrund ihres Geschlechts in irgendeiner Weise ausgeschlossen oder begrenzt werden. Das Geschlecht eines Menschen eignet sich nicht zum offenen oder verborgenen Grund für eine Ungleichbehandlung. Überall, wo Strukturen, Denkweisen oder eingefahrene Mechanismen dies tun, ist die Chancengleichheit der Geschlechter verletzt.

Die Chancengleichheit der Geschlechter kann im Bildungssystem gefördert werden, indem die Zugänge zu allen Bildungswegen für beide Geschlechter in gleicher Weise offen sind und die benachteiligenden Strukturen der typisch weiblichen Bildungsformen und Bildungswege abgebaut werden (quantitative Parität der Geschlechter). Gleichzeitig gehören Erkenntnisse und Reflexionsprozesse über Geschlechterverhältnisse zu den unverzichtbaren Bildungsinhalten auf allen Ebenen (qualitativer Reformprozess).

2. Zum Stand der Verwirklichung von Chancengleichheit

Die Gleichheit der Geschlechter ist weltweit bisher nicht erreicht. Im europäischen Raum liegen die Probleme nicht so sehr darin, dass Frauen durch Gesetze diskriminiert werden, sondern dass die faktische Gleichheit nicht hergestellt ist: Frauenrechte gelten noch immer nicht wie Menschenrechte, die Beteiligung von Frauen an den politischen Entscheidungen ist marginal, vielen Frauen bleibt weiterhin eine wirtschaftliche Unabhängigkeit vorbehalten.

Im Vergleich zu Männern arbeiten Frauen 35 Stunden in der Woche unbezahlt, Männer nur 19,5 Stunden. Diese gewaltige Summe an unbezahlter Arbeit bringt für Frauen weder Anerkennung noch eine unabhängige finanzielle Absicherung

In den letzten Jahren haben Männer und Frauen zwar etwa gleiche schulische Bildungsabschlüsse erreichen können. Im Bereich der beruflichen Ausbildung und der Erwerbsarbeit herrscht aber immer noch eine geschlechtshierarchische Spaltung mit unterschiedlichen Folgen: Berufe, die überwiegend von Frauen ergriffen werden, bieten im Vergleich zu den Berufen, die überwiegend von Männern ergriffen werden, weniger Chancen im Verdienst, beim Aufstieg und in der Weiterbildung. Branchen, Arbeitsplätze und Positionen sind ebenfalls geschlechtsspezifisch zugewiesen: So ist etwa der Anteil von Frauen in höheren Positionen sehr gering, und diejenigen, die höhere Positionen erreicht haben, verdienen im Verhältnis zu vergleichbaren Männern sehr viel weniger.

Die Geschlechterhierarchie prägt in besonderem Maße den Bereich der unbezahlten Arbeit: Aus Zeitbudgetuntersuchungen geht hervor, dass im gesamten Deutschland 95,5 Milliarden Stunden unbezahlte Arbeit geleistet werden, gegenüber nur 60 Milliarden Stunden im Rahmen der Erwerbsarbeit. Dies zeigt eindrucksvoll, dass der überwiegende Anteil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit ohne Entgelt geleistet wird. Dabei sind es die Frauen, die den größten Teil dieser unbezahlten Arbeit leisten. Im Vergleich zu Männern arbeiten Frauen 35 Stunden in der Woche unbezahlt, Männer nur 19,5 Stunden. Diese gewaltige Summe an unbezahlter Arbeit bringt für Frauen weder Anerkennung noch eine unabhängige finanzielle Absicherung.

Das hierarchische Geschlechterverhältnis hat sich nach der Wende in der Bundesrepublik noch einmal verschärft. Das traditionelle "bread winner" Modell der Geschlechterbeziehungen, mit der vorrangigen Verantwortung des Mannes für die materielle, der Frau für die immaterielle Versorgung von Kindern und Hilfsbedürftigen - auf dessen Grundlage sich das Sozialstaatssystem aufbaut - hat durch die Übernahme der westdeutschen sozialstaatlichen Regelungen auch in den Ostländern Einzug gehalten und sich dadurch verbreitert.

Die gleichzeitige Übertragung der westdeutschen Lohn- und Gehaltstarife auf die neuen Bundesländer hat die Schere zwischen Männer- und Frauenlöhnen weiter auseinandergebracht und damit die Lohndiskriminierung von Frauenarbeit verstärkt. Die Reduzierung und Verteuerung von Infrastruktureinrichtungen im Bereich der Kindererziehung und -betreuung und die hohe Beteiligung von Frauen bei der Pflege führt dazu, dass Frauen aufgrund der ihnen zugewiesenen privaten Arbeit weiterhin weniger Chancen haben, eine gut bezahlte Erwerbsarbeit zu bekommen.

3. Gesellschaftliche Entwicklung bis 2009 - wie es sein könnte

Kindertagesstätten stehen für Kinder ab zwei Jahren flächendeckend zur Verfügung. Selbstorganisiertes Lernen und zwei- bzw. mehrsprachiges Aufwachsen gehören zu den Prinzipien der Vorschulpädagogik. Bildungswege und Bildungsinstitutionen stehen allen - unabhängig von Geschlecht, Nationalität, Behinderung oder Alter - in Verbindung mit der größtmöglichen Durchlässigkeit offen. Schule, Hochschule und Weiterbildung berücksichtigen in ihren Curricula und Lehrangeboten die besonderen fachlichen und lerntheoretischen Interessen von Mädchen und Jungen, Männern und Frauen gleichermaßen.

Geschlechterdemokratie, Partnerschaft und die Querschnittspolitik des Gender-Mainstreaming gehören zu den Pflichtthemen in schulischen und hochschulischen Lehrplänen. Weibliche und männliche Jugendliche haben im Rahmen der Berufsorientierungsphase den gleichen Zugang zu aktuellen und zentralen Informationen über die Beschaffenheit des Ausbildungsstellenmarktes und die gleichen Chancen bei der Bewerbung um eine betriebliche Lehrstelle. Daher werden Ausbildungsplätze per Quote für beide Geschlechter vorgehalten.

Männliche Jugendliche werden über Anreizsysteme für eine Berufsausbildung im sozialpädagogischen und Pflegebereich motiviert, weibliche Jugendliche umgekehrt für eine Ausbildung z.B. in den Bereichen Informations- bzw. Kommunikationstechnik und Ingenieurwissenschaften. Erwerbsarbeit ist für jede Person ihren individuellen Neigungen und Fähigkeiten entsprechend in existenzsicherndem Umfang vorhanden. Niemand wird wegen Behinderung, Krankheit, eingeschränkter Leistungsfähigkeit oder Alter ausgegrenzt.

Es gibt weder Männer- noch Frauenbranchen, weder Männer- noch Frauenberufe, vielmehr wird die Arbeit mit und für Menschen genauso bewertet wie Arbeit mit Technik und - unabhängig vom Geschlecht - von allen Erwachsenen geleistet.

Männer und Frauen haben eine kontinuierliche und entlohnte Beschäftigung, deren zeitlicher Umfang zugunsten von Haus- und Familienarbeit für Kinder und Hilfsbedürftige reduziert werden kann, ohne dass die existenzsichernde materielle Absicherung verloren geht oder berufliche Nachteile entstehen. Es gibt weder Männer- noch Frauenbranchen, weder Männer- noch Frauenberufe, vielmehr wird die Arbeit mit und für Menschen genauso bewertet wie Arbeit mit Technik und - unabhängig vom Geschlecht - von allen Erwachsenen geleistet. Hierarchische Strukturen sind vernetzten gewichen, in denen Männer und Frauen in gleicher Weise führende und ausführende Funktionen erfüllen.

Arbeit und Einkommen sind nicht mehr geschlechterspezifisch verteilt, Frauen und Männer arbeiten gleichviel, an denselben Stellen und für denselben Lohn: in der Erwerbstätigkeit und in der Haus- und Familienarbeit. Haus- und Familienarbeit als privat und unbezahlt zu leistende Arbeit ist sinnvoll reduziert und durch öffentliche Dienstleistungsangebote ersetzt. Diese Angebote sind für alle zugänglich und bieten den dort Beschäftigten angemessene Einkommen. Die jeweils verbleibende privat und unbezahlt zu leistende Arbeit wird von Männern und Frauen gleichermaßen erbracht.

Ehrenamtliche Arbeit wird von Männern und Frauen in gleichem Umfang, in gleicher Weise und auf den gleichen Positionen geleistet. Sie ergänzt auf spezifische Weise die bezahlte Arbeit in bestimmten Arbeitsfeldern. Eine Politik des altersgerechten Lebens, Arbeitens und Wohnens unterstützt die Chancengleichheit und Gesundheit älterer Menschen. Die Renten älterer Frauen sind genauso hoch wie die der älteren Männer.

4. Geschlechterpolitische Strategien, Wege und Instrumente zur Herstellung der Chancengleichheit

Der Einsatz der Frauen zur Aufhebung der hierarchischen Geschlechterbeziehungen hat Tradition. Hierbei haben sie eine Reihe von Strategien entwickelt: Um die gleiche Beteiligung von Frauen in allen Bereichen herzustellen, sind Quotierungsstrategien erprobt und zum Teil bereits über gesetzliche und politische Regelungen verankert worden. Die Quotierungsstrategien dienen dazu, den über das Ge--schlecht funktionierenden Ausschluss aufzuheben und geschlechterdemokratische Verhältnisse herzustellen. Sie sind in allen Bereichen erforderlich, wo dieser Ausschluss noch vorhanden ist. Darüber hinaus sind normative Festlegungen erforderlich, die die Geschlechterdemokratie zur Zielgröße von Institutionen, Organisationen und politischen Maßnahmen definieren.

Damit Frauen in Organisationen ihre Sichtweise zur Gestaltung von Arbeit und Umwelt einbringen können, sind eigenständige und autonome Strukturen für sie notwendig. Diese Strukturen dienen der Konsensbildung, der gegenseitigen Stärkung und der Kontrolle derjenigen, die in paritätisch besetzten Gremien arbeiten. Neben diesen drei Strategien wird in letzter Zeit eine vierte Strategie diskutiert, das Gender Mainstreaming. Diese Strategie ist als Ergänzung zu den drei eben genannten zu verstehen und darf nicht als Ersatz für eine der anderen Strategien angesehen werden.

Was ist Gender Mainstreaming?

Erstmals wurde diese Strategie auf der dritten Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen in Nairobi 1985 als neues Konzept diskutiert. Man sah darin eine Möglichkeit der Förderung der Rolle der Frauen auf dem Gebiet der Entwicklung und zur Einbeziehung weiblicher Wertvorstellungen in die Entwicklungsarbeit.

Auf der vierten Weltfrauenkonferenz der Vereinigten Nationen in Peking 1995 wurde die Strategie des Gender Mainstreaming durch die dort verabschiedete Aktionsplattform ausdrücklich unterstützt. Die Aktionsplattform forderte die Regierungen und andere Aktive auf, eine sichtbare Politik der konsequenten Einbeziehung geschlechterbezogener Perspektiven in alle Politiken und Programme zu fördern und die Auswirkungen von Entscheidungen auf Frauen und Männer zu prüfen, bevor entsprechende Beschlüsse gefasst werden.

Die Quotierungsstrategien dienen dazu, den über das Geschlecht funktionierenden Ausschluss aufzuheben und geschlechterdemokratische Verhältnisse herzustellen. Sie sind in allen Bereichen erforderlich, wo dieser Ausschluss noch vorhanden ist.

Damit bedeutet Mainstreaming, dass eine "Inventur" aller politischen Konzepte und Maßnahmen vorgenommen wird und bei der Entwicklung, Durchführung- und Evaluation politischer Maßnahmen die Geschlechterperspektive bzw. die Auswirkungen auf Männer und Frauen geprüft werden. Im Ergebnis erhalten nur solche Maßnahmen eine Chance zur Umsetzung, die einer Gleichstellung der Geschlechter dienen. Darüber hinaus bedeutet Gender-Mainstreaming auch, dass Männer und Frauen gleichermaßen für die Durchsetzung der Chancengleichheit der Geschlechter verantwortlich gemacht werden.

Beispiele für die Umsetzung des Gender-Mainstreaming

Der Bildungsbereich gilt als einer der Schlüsselbereiche zur Herstellung der Chancengleichheit der Geschlechter. Dabei geht es nicht nur um die gleiche Beteiligung der Geschlechter an allen Bildungswegen, sondern auch um die Veränderung der herrschenden Geschlechterstereotypen und geschlechtsspezifischen Orientierungen. Als ein Beispiel für die Anwendung des Gender-Mainstreaming-Prinzips im Bereich der schulischen Bildung können die Curricula angesehen werden, in denen die Berufsvorbereitungen von Jungen und Mädchen unter der Frage des Geschlechterverhältnisses gestaltet werden. Bei diesen Berufswahlorientierungen geht es nicht nur um die Erwerbsarbeit der zukünftigen Erwachsenen, sondern auch um die Frage der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung im privaten Leben.

Als ein weiteres Beispiel für die Erprobung eines Gender-Mainstreaming Ansatzes können die Organisationsentwicklungsprozesse in Verwaltungen und Stiftungen gelten, in denen über die Sensibilisierung für Geschlechterfragen der Versuch gemacht wird, die in der Verwaltung und anderen Institutionen Beschäftigten darauf vorzubereiten, dass sie bei all ihren Arbeiten das Geschlechterverhältnis berücksichtigen. Gender-Mainstreaming braucht jedoch nicht nur für dieses Politikfeld qualifizierte und sensibilisierte Männer und Frauen, auch die organisatorischen Strukturen, in denen gearbeitet wird, müssen diesem Konzept entsprechen. Bei der Neustrukturierung der Gewerkschaften (ver.di) ist von Seiten der Frauen der Versuch unternommen worden, die neue Organisationsform so zu gestalten, dass die Veränderung der Geschlechterverhältnisse zu einem integrierten Bestandteil der gewerkschaftlichen Politik werden kann.

5. Anforderungen an Politik und Gesellschaft - Empfehlungen

Die Sensibilisierung für Geschlechterfragen ist als durchgängiges Bildungsziel zu verankern. Die Bildungsinhalte auf jeder Ebene sind so zu gestalten, dass die Geschlechterverhältnisse mit thematisiert werden. Sowohl Lehrpläne in Schule und Hochschule als auch Unterricht und Lehrveranstaltungen sollten nach dem Gender-Mainstreaming-Prinzip gestaltet werden. Dies erfordert die Aneignung geeigneter pädagogischer Methoden. Die Geschlechterverhältnisse müssen systematisch erforscht und deren Erforschung gefördert werden. Die Gender-Qualifizierung ist als Weiterbildung zu etablieren, es müssen Experten und Expertinnen in diesem Bereich ausgebildet werden, die sowohl das jeweils notwendige Fachwissen für einen Bereich unter Geschlechteraspekten besitzen, die andererseits aber auch in der Lage sind, Gruppen zu moderieren, in denen Geschlechtersensibilität vermittelt werden soll.

Die Entwicklung vergleichbarer Indikatoren in EU-Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsinstitutionen muss vorangetrieben und die systematische sowie regelmäßige Aufbereitung EU-weiter geschlechtsspezifischer Daten sichergestellt werden.

Es sind Zentren zu schaffen, in denen Experten und Expertinnen für Gender-Mainstreaming arbeiten (Einsatz von flying experts, vor allem auch für Sozialwissenschaftlerinnen); Vernetzungsformen von Politik und feministischer Wissenschaft sind zu entwickeln und erproben (alliance politics). Die Idee des Gender-Mainstreaming als notwendige Veränderung von Organisationen und ihrer Politik sind zu verbreiten, insbesondere auch in Verbindung mit Kongressen, Hearings und öffentlichen Veranstaltungen sowie den IuK-Technologien.

In den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sind Modelle zu schaffen, die nach dem Gender- Mainstreaming- Prozess die Politik der Organisationen verändert. Parallel sind Informations- und Bildungsmaßnahmen für die politisch Verantwortlichen von Vorteil. Sämtliche politischen Maßnahmen und Konzepte müssen einer Geschlechterverträglichkeitsprüfung unterzogen werden (gender impact assessment). Es sollte ein deutsches und ein europäisches Gender-Institut eingerichtet werden. Die Entwicklung vergleichbarer Indikatoren in EU-Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsinstitutionen muss vorangetrieben und die systematische sowie regelmäßige Aufbereitung EU-weiter geschlechtsspezifischer Daten sichergestellt werden.

Print-, audio-visuelle und Multi-Medien sind aufzufordern, verstärkt über die Politik der Gleichstellung und des Gender-Mainstreaming zu berichten. Frauen müssen - vor allem als Akteurinnen - mehr Einfluss auf die öffentliche Meinung sowie Art und Umfang ihrer Verbreitung nehmen und im Zuge des Wandels zur Informationsgesellschaft weitere und dichtere Netzwerke zur gegenseitigen Unterstützung knüpfen.


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Einführung/Thesenpapier/
Bericht

- Barbara Stiegler
- Marion Lührig / Barbara Stiegler

Round-Table 1:
Gender-Mainstreaming in Organisationen
- Prof. Dr. D. Schimanke
- Dr. Ursula Aumüller-Roske
- Christel Ewert
- Bernd Drägestein

Round-Table 2:
Beispiele aus der Bildungspraxis
- Doris Lemmermöhle

Round-Table 3:
Strukturen und Netzwerke
- Ilona Schulz- Müller
- Gabriele Schambach