Potsdamer Erklärung (401 KB)


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Potsdam, im Januar 2000

Der Potsdamer Kongress der Gesellschaft Chancengleichheit e.V.
und die Erarbeitung der Potsdamer Erklärung wurden gefördert durch:

Bundesministerium für Bildung und Forschung
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg
Zweiwochendienst

Pressetext: Mehr politische Initiative

Potsdamer Erklärung

Nachwort

Zur Entstehung der Potsdamer Erklärung

Die GESELLSCHAFT CHANCENGLEICHHEIT e.V., eine gemeinnützige Vereinigung von Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Publizistik, hat vom 11. bis 13. November 1999 in Potsdam einen bundesweiten Kongress zur Bildungs- und Geschlechterpolitik unter dem Motto "Chancengleichheit - Leitbegriff für Politik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert" veranstaltet. Daran haben rund 200 Expertinnen und Experten aus ganz Deutschland teilgenommen. Als Ergebnis dieses Kongresses ist die nachstehende Erklärung entstanden. Sie richtet sich vor allem an die politisch Verantwortlichen und Beschäftigten in Bildung und Wissenschaft, Kultur und Medien, ebenso an die Verantwortlichen für Frauen- und Gleichstellungspolitik, Familien- und Sozialpolitik.


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Die Verfasserinnen und Verfasser

Die Potsdamer Erklärung ist von der Vorbereitungsgruppe des Kongresses "Chancengleichheit - Leitbegriff für Politik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert" unter Einbeziehung vieler Vorschläge und Anregungen von Expertinnen und Experten aus der Bildungs- und Frauenpolitik erarbeitet worden. Zum engeren Kreis gehörten Tilo Braune, Christa Cremer-Renz, Peter Döge, Christoph Ehmann, Klaus Faber, Hannelore Faulstich-Wieland, Peter Faulstich, Monika Ganseforth, Maria-Eleonora Karsten, Holger H. Lührig, Marion Lührig, Sigrid Metz-Göckel, ­Barbara Stiegler, Barbara Stolterfoth, Rolf Wernstedt, Dieter Wunder.

Für Beiträge und wichtige Anregungen danken wir den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kongresses, speziell Christine Färber, Elke Plöger, Anne Ratzki, Jürgen Theis und Gabriele Winker, für ihre schriftlichen Anmerkungen zum Entwurf des Manifestes. Der Dank gilt ferner den Referentinnen und Referenten des Kongresses, deren Reden im Rahmen der Kongress-Dokumentation im Frühjahr veröffentlicht werden.

Die Schlussredaktion der Potsdamer Erklärung lag bei Holger H. Lührig, Marion Lührig und Dieter Wunder.


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Chancengleichheit - Leitbegriff für Politik
und Gesellschaft im 21. Jahrhundert

Zum Beginn eines neuen Jahrhunderts - 50 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, 10 Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit - gilt es eine Zwischenbilanz zu ziehen: Wieweit ist das Ziel Chancengleichheit für die Menschen in Deutschland verwirklicht? Wie steht es um die Einlösung des Gleichheitsgebotes von Artikel 3 des Grundgesetzes und des Sozialstaatsprinzips nach Artikel 20 als Grundlage für die Forderung nach Chancengleichheit?

Ein Vergleich zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit fällt sehr zwiespältig aus: Zwar hat die Politik seit den 60er Jahren - oder gerade wieder seit 1999 - Chancengleichheit zum leitenden Prinzip deklariert. Und Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes haben die Gleichstellung der Geschlechter und z.B. den freien Zugang zu den Hochschulen gefördert. Doch trotz beachtlicher Anstrengungen ist der Anspruch auf Chancengleichheit in Deutschland bisher vielfach noch nicht eingelöst.

Zugleich ergeben sich neue Chancen und Gefährdungen für Chancengleichheit aufgrund tiefgreifender Veränderungen aller Lebensbereiche, die insbesondere vom Zusammenwachsen Europas, von der sich beschleunigenden Globalisierung und von der technologischen Umwälzung durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bestimmt werden. Angesichts jetzt schon teilweise absehbarer, auch unerwünschter Folgen sind Antworten auf die Frage gefordert, wie in Zukunft der Anspruch auf chancengleiche Teilhabe an der Wirtschafts- und Arbeitswelt, am kulturellen Leben und demokratischen Gemeinwesen für alle Menschen gewährleistet werden kann.

Die Potsdamer Erklärung der GESELLSCHAFT CHANCENGLEICHHEIT soll die öffentliche Debatte über Ziele und Wege zu mehr Chancengleichheit forcieren.


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Chancengleichheit als Aufgabe der Politik

Die Verknüpfung von Innovation und sozialer Gerechtigkeit, Leitvorstellungen für die anstehende Modernisierung von Staat und Gesellschaft, ist die vordringliche Aufgabe der deutschen und europäischen Politik. Chancengleichheit ist nach wie vor eine der wichtigsten Konkretisierungen sozialer Gerechtigkeit und ein Impuls für gesellschaftliche Innovationen.

In modernen demokratischen Gesellschaften legitimieren Bildungsabschlüsse den Zugang zu Beruf und Einkommen, Einfluss und sozialer Anerkennung, nicht mehr Privilegien der Herkunft. Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung - sowie während der Bildungszeit - ist demnach ein Maß sozialer Gerechtigkeit in einer demokratischen Gesellschaft. Eine Politik der Chancengleichheit bemüht sich systematisch um den Abbau aller Benachteiligungen, die Menschen aufgrund von Geschlecht, sozialer, kultureller und regionaler Herkunft oder körperlicher Behinderung erfahren. Gender-Mainstreaming ist gegenwärtig der wichtigste Politikansatz zur Überwindung der Geschlechterungleichheit.

Chancengleichheit setzt die Anerkennung der Verschiedenheit von Menschen, ihrer unterschiedlichen Biografien, Lebensweisen sowie Befähigungen voraus und fördert die Entfaltung ihrer jeweiligen Lebensperspektiven. Die Dominanz männlich oder eurozentrisch geprägter Sichtweisen in Bildung, Wissenschaft, Kultur und Medien ist zu überwinden. Auch eine nur ökonomisch orientierte Ausrichtung widerspricht einer umfassenden Bildung.

Bildungspolitik nimmt eine Schlüsselstellung ein im erfolgreichen Bemühen um Chancengleichheit; andere Politikbereiche wie Arbeitsmarkt-, Familien-, Innen- und Sozialpolitik müssen unterstützend tätig werden, unabhängig von ihrer eigenständigen Verantwortung für mehr Chancengleichheit in der Gesellschaft.

Eine breite Debatte über Chancengleichheit wird die wissenschaftlichen und intellektuellen Diskurse in unserer Gesellschaft neu beleben und zugleich soziale bzw. technologische Veränderungsprozesse stimulieren.


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Chancengleichheit ist in vielen Feldern nur ansatzweise erreicht

Eine Bestandsaufnahme des Bildungswesens zeigt unbestreitbare Erfolge im Abbau von Ungleichheit. Geschlecht, soziale Lage, Kultur, Herkunft oder Behinderung stellen jedoch nach wie vor Diskriminierungsmerkmale dar: Diese verstärken sich gegenseitig vielfach, wie sich insbesondere bei Kindern der meisten Zuwanderinnen und Zuwanderer (Arbeitsmigration, Aussiedlung, Flucht), aber auch für Kinder aus anderen sozial benachteiligten Gruppen belegen lässt. Das Prinzip des lebensbegleitenden Lernens - vom vorschulischen Kindesalter über schulische und berufliche Bildung bis zu unterschiedlichen Formen der Weiterbildung für Erwachsene und nicht zuletzt Seniorinnen und Senioren - muss Merkmal moderner Gesellschaften sein, hat aber in Deutschland noch nicht den ihm gebührenden Stellenwert erlangt.

Im Einzelnen erbringt eine Analyse durchaus unterschiedliche Tendenzen:

  1. Die Bildungsexpansion seit den 60er Jahren hat zu einer Ausweitung der Bildungschancen geführt. In der Bundesrepublik Deutschland besuchen immer mehr Jugendliche aus allen gesellschaftlichen Gruppen weiterführende Schulen. Bei Realschul- und Gymnasialabschlüssen sowie vergleichbaren Abschlüssen sind junge Frauen inzwischen in der Mehrheit.
  2. Die soziale Ungleichheit im Bildungssystem besteht fort, der Abstand zwischen "ganz oben" und "ganz unten" ist geblieben. Kinder aus den sozial schwachen Schichten, unter ihnen zugewanderte Jugendliche, sind an Gymnasien und Hochschulen unterrepräsentiert; Jungen, besonders deutlich in Ostdeutschland, stellen einen großen Teil der Schüler mit Hauptschul-, mit einem vergleichbaren oder ohne jeden Abschluss. Kinder von Zuwanderinnen und Zuwanderern der Unterschichten erfahren zusätzlich Nachteile, weil Multikulturalität vielfach mehr als Problem denn als Chance gesehen wird; ihr Anteil an Sonderschulen ist überproportional. Bei Mädchen aus solchen Gruppen sozial Benachteiligter kumulieren diese Probleme.

    Ganztägige Bildungsangebote fehlen weitgehend. Dabei würden sie für die Erziehung und Bildung von Kindern und jungen Heranwachsenden Chancengleichheit fördern und auch angesichts der Veränderungen in den Familienstrukturen einen ausgleichenden pädagogischen Stellenwert haben.

  3. Ungeachtet aller Erfolge bei der Gleichstellung von Frauen ist die geschlechtshierarchische Strukturierung der Bildungsinhalte noch nicht beseitigt; auch die Verteilung der Lehrenden auf die Bildungsbereiche findet bisher nach geschlechtshierarchischen Mustern statt. Im Erziehungsbereich (Kindergarten) und in den Grundschulen dominieren Frauen, Männer dagegen immer noch in den technisch-naturwissenschaftlichen Fächern und vielfach noch an den Gymnasien und Berufsschulen, vor allem in Leitungspositionen.

    Der Anteil von Frauen an den Lehrenden und Forschenden in den Hochschulen ist aufgrund der herrschenden Auswahlverfahren eklatant gering und beträgt etwa bei der Gruppe der Professoren und Professorinnen gerade neun Prozent - auch im internationalen Vergleich ist dies ein auffallend geringer Anteil. Zu Studienbeginn liegt er hingegen derzeit bei über 50 Prozent.

  4. Berufliche Bildung vermittelt weniger Lebenschancen als die akademische Bildung. Die Benachteiligung ihrer Absolventinnen und Absolventen zeigt sich in Karriereverläufen sowie am Grad ihrer Beteiligung an der Hochschul- und Weiterbildung. Die Unterschiede beim Zugang zum Beruf, im Hinblick auf Lernorte, Lernorganisation und Angebotsstruktur sowie hinsichtlich der Finanzierung führen zu spezifischen Nachteilen, generell aufgrund des Geschlechts, speziell bei Behinderten, Zuwanderinnen und Zuwanderern und sozial benachteiligten Jugendlichen.

    Junge Männer aus den sozial schwachen Schichten sind besonders häufig in Übergangsmaßnahmen ohne Zukunftsperspektive anzutreffen; Zuwanderinnen und Zuwanderer haben vielfach mangelhafte Sprachkenntnisse im Deutschen; ostdeutsche Jugendliche sind von den Folgen der noch schwach ausgeprägten Wirtschaftsstruktur betroffen.

    Frauen finden sich vielfach in wenigen, gering bezahlten bzw. gering bewerteten Berufen; dies gilt insbesondere für Zuwanderinnen der Unterschicht und andere sozial benachteiligte Gruppen. Vollzeitschulische Berufsausbildungen - fast ausschließlich Ausbildungen für Frauen - vermitteln eine anspruchsvolle Ausbildung; ihnen fehlt allerdings die hinreichende Anerkennung, so dass sie eher als andere Ausbildungen in die Arbeitslosigkeit führen und in vielen Bundesländern bei Reformdiskussionen nicht hinreichend berücksichtigt werden.

    Die Chancen junger Menschen in strukturschwachen Regionen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, sind schlechter geworden. Dies trifft besonders junge Frauen, die zunehmend auf weiterführende allgemeinbildende oder gebührenpflichtige berufliche Schulen verwiesen werden.

  5. Eine Ungleichheit kennzeichnet nach wie vor das gesamte "Arbeitsleben", unter dem jede Form bezahlter wie unbezahlter Arbeit zu verstehen ist: Frauen leisten den überwiegenden Teil der gesellschaftlich lebensnotwendigen, aber unbezahlten Arbeit. Betreuungsangebote in Schulen und Ganztagsschulen fehlen, sie könnten qualifizierte Dienstleistungs- und Bildungsaufgaben erfüllen, zudem viele Eltern, insbesondere allein stehende Mütter oder Väter, entlasten.

    Auf dem Arbeitsmarkt haben Frauen - trotz besserer Bildung - aufgrund latenter und manifester Ungleichheiten in der Berufsausbildung sowie im Hochschulbereich schlechtere Chancen als Männer, insbesondere in wichtigen Bereichen, Funktionen und Positionen.

  6. Ungleichheiten kennzeichnen auch den größten Bildungsbereich, die Weiterbildung. Zwar sind die Unterschiede in der Weiterbildungsbeteiligung zwischen Männern und Frauen nur noch gering, in zukunftsträchtigen beruflichen Weiterbildungsangeboten finden sich jedoch mehr Männer. Weil Frauen in leitenden Stellungen seltener anzutreffen sind, nehmen Männer als leitende Mitarbeiter überproportional betrieblich finanzierte Weiterbildungsangebote wahr.

    Bildungsstand und beruflicher Status entscheiden maßgeblich über die Teilnahme an Weiterbildung: Allgemein dominieren einerseits junge Menschen mit Abitur bzw. Hochschulabschluss, andererseits Beamtinnen und Beamte. Wer nur über einen Hauptschul-, einen vergleichbaren oder gar keinen Abschluss verfügt, bleibt in der Bildungsgesellschaft fast chancenlos.

    Weiterbildung verschärft so die Auslese und verstärkt die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern.

  7. Den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien kommt beim Übergang der Industrie- in die Bildungsgesellschaft eine zentrale Bedeutung zu. Der Zugang zu den entscheidenden Ressourcen ist ungleich verteilt: Der typische Online-Nutzer ist jung, wohlgebildet, berufstätig, und männlich. Kinder aus Unterschichten haben vielfach keinen aktiven Zugang zu den neuen Medien und laufen daher Gefahr, aus der Bildungsgesellschaft herauszufallen. Frauen werden beim Zugang zu den neuen Medien strukturell behindert; ihnen fehlen neben den Möglichkeiten, Erfahrungen mit der technischen Struktur zu sammeln vor allem bedarfsgerechte Angebote im Netz. Die Organisation von Arbeit auf Netzbasis ist geschlechtshierarchisch geprägt. Themen und Arbeitsfelder, die gesellschaftlich Frauen zugeordnet werden, finden bisher kaum Berücksichtigung. Es fehlt an Systemspezialistinnen und Software-Entwicklerinnen.
  8. Die erheblichen ökonomischen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland schaffen spezifische Bildungsbenachteiligungen in den neuen Bundesländern. Unzureichende wirtschaftliche Struktur und deren geringe Entwicklungsmöglichkeit, das weitgehende Fehlen der dualen betrieblichen Berufsausbildung wie auch die problematische Arbeitsmarktlage erschweren den Zugang zu beruflicher Ausbildung und zu Arbeitsmöglichkeiten. Seit 1990 ist die industrienahe Forschung in Ostdeutschland auf unter 20 % der ursprünglichen Kapazitäten zurückgegangen; der ostdeutsche Anteil an der deutschen Industrieforschung beträgt nur noch 2 %. Auch der ostdeutsche Anteil der Hochschulzugangsberechtigten, besonders aber der Studierenden liegt unter dem westdeutschen.

    Die Bestandsaufnahme zeigt: Trotz aller Fortschritte ist es noch ein weiter Weg zu einem Mehr an Chancengleichheit. Mit den ökonomischen und sozialen Veränderungen im Zuge des Ausbaus und der Erweiterung der Europäischen Union, vor allem aber angesichts der weltweiten Globalisierung sind nicht nur Chancen, sondern auch Gefahren verbunden, die die geschlechtsspezifischen, sozialen und kulturellen Spaltungen der Gesellschaft zu verstärken drohen. Politische Regelungen zur Sicherung von Chancengleichheit und deren konsequente Umsetzung sind daher unerlässlich. Für eine sozialverträgliche Gestaltung der Gesellschaft brauchen wir eine neue Philosophie der Chancengleichheit.


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Eine neue Philosophie

Die neue Diskussion um Chancengleichheit verbindet Geschlechterdemokratie, soziale Gerechtigkeit und Interkulturalität. Sie lenkt den Blick gezielt auf Bildung als wichtigste Grundlage für den Wohlstand moderner Gesellschaften. Denn die Sicherung und Entwicklung der Zukunft ist längst nicht mehr primär an technische Produktionssysteme und -instrumente gekoppelt, sondern fußt mehr und mehr auf dem Wissensstand der Menschen und ihrer Kommunikationsfähigkeit. In der Bildungsgesellschaft ist es entscheidend, wie und was wann gelernt werden soll und wer Zugang zum Wissen hat.

Lernorganisation und Themenauswahl der Bildung müssen die Teilhabe aller Menschen an der Entwicklung der Bildungsgesellschaft sichern; zu vermitteln sind:

Diese Kompetenzen sind Grundlage einer Bildung für alle Menschen, die sie befähigt, selbstbestimmt Verantwortung für sich und die Gesellschaft zu übernehmen.

Eine moderne Politik der Chancengleichheit muss sich hierbei am Grundsatz der Demokratisierung orientieren: In allen gesellschaftlichen Bereichen müssen die Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger erweitert werden. Diesem Ziel dienen die folgenden Leitlinien

Frauen und Männer müssen die gleichen Lebensbedingungen haben und in allen gesellschaftlichen Bereichen über die gleichen Teilhabemöglichkeiten verfügen. Eine demokratische Gesellschaft darf nicht unter dem Schein der rechtlichen Gleichheit die traditionellen Ausgrenzungen aufgrund des Geschlechts faktisch fortführen.

Moderne Gesellschaften werden sich nur dann als Zivilgesellschaften erhalten und weiterentwickeln, wenn jeder Mensch über ein existenzsicherndes und eigenständiges Einkommen verfügt. Die Überwindung von Armut und Not muss eine von allen politischen Kräften gewollte Aufgabe sein. Jeder Mensch muss am materiellen, sozialen und kulturellen Leben wie am Erwerbsleben teilhaben können; das gesellschaftspolitische Leitbild des Mannes als alleiniger Familienernährer widerspricht der gesellschaftlichen Realität und dem Ziel der Chancengleichheit aller Menschen.

Auf der Grundlage eines solchen Verständnisses sozialer Gerechtigkeit können Menschen sich solidarisch gegenüber den Menschen des eigenen Landes und anderer Länder verhalten.

Moderne Gesellschaften sind heterogen; sie sollen die Verschiedenheit ihrer Menschen und Gruppen achten und auf der Grundlage der universalen Menschenrechte im täglichen Zusammenleben Raum für die Differenz gewähren.

Die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte - demografische Veränderungen, die Lebens- und Arbeitsverhältnisse umwälzende Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechniken, die Internationalisierung der Gesellschaft, aber auch die Herausbildung neuer politischer Gestaltungsformen - können nicht nur mit kurzfristigen Maßnahmen beantwortet werden. Bedürfnisse der Gegenwart dürfen zudem nicht auf Kosten künftiger Generationen befriedigt werden; notwendig ist eine Politik der Nachhaltigkeit (Sustainable Development), die langfristig ökologisch angelegt ist und eine Gesellschaft mit gerechterer Verteilung von Lebens- und Arbeitschancen anstrebt. Bildung muss hierzu beitragen.

Eine moderne Politik der Chancengleichheit braucht berechenbare, d.h. über Wahlperioden hinausgehende stabile Rahmenbedingungen. Junge Menschen, vor allem Frauen, müssen Sicherheit für eine selbstbestimmte Existenz haben, also auf die nachhaltige Förderung von Chancengleichheit bauen können.


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Anforderungen an die Politik

1.

Generell ist die Sensibilisierung für Geschlechterfragen als durchgängiges Bildungsziel zu verankern. Das Konzept des Gender-Mainstreaming ist eine maßgebliche Strategie zur Wahrnehmung geschlechtsspezifischer Wirkungen politischer Maßnahmen und muss als notwendige Veränderung von Organisationen und ihrer Politik auf allen gesellschaftlichen Ebenen Eingang in die Köpfe derer finden, die Entscheidungen treffen; den Medien fällt hierbei eine unersetzbare Aufgabe zu. Die öffentliche Verwaltung muss die Rolle einer Vorreiterin übernehmen und den Erfahrungsaustausch mit allen gesellschaftlichen Einrichtungen und Gruppen fördern. Regional sind Kompetenzzentren für Geschlechterfragen zu schaffen, in denen Expertinnen und Experten für Beratung und Fortbildung tätig werden.

Sämtliche politischen Maßnahmen und Konzepte müssen einer Geschlechterverträglichkeitsprüfung unterzogen werden. Sowohl die inhaltlichen Konzeptionen der Bildungseinrichtungen als auch der Unterricht und die Lehrveranstaltungen sind nach dem Gender-Mainstreaming-Prinzip zu gestalten.

Die Geschlechterverhältnisse müssen systematisch mit öffentlicher Förderung erforscht, ihre Ergebnisse veröffentlicht und in praktische Politik umgesetzt werden. Hierzu bedarf es der Einrichtung eines deutschen und eines europäischen Gender-Instituts. Die Entwicklung vergleichbarer Indikatoren über den erreichten Stand von Chancengleichheit in EU-Mitgliedsstaaten und Gemeinschaftsinstitutionen muss vorangetrieben und die regelmäßige differenzierte Aufbereitung EU-weiter geschlechtsspezifischer Daten auf nationaler wie europäischer Ebene sichergestellt werden.

2.

Alle Menschen der Gesellschaft sind für die Multikulturalität und ihre Probleme zu sensibilisieren. Die Integration von Zuwandererinnen und Zuwanderern, verstanden als deren gleichberechtigte Teilhabe an den Lebensmöglichkeiten in einer demokratischen Gesellschaft, muss ein durchgehendes Prinzip der Bildungspolitik werden. Dafür ist der Erwerb der deutschen Sprache wie auch die Pflege der Muttersprache für jede und jeden unerlässlich. Ebenso ist die Herkunft der Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Ländern, Kulturen und Religionen zu beachten, beispielsweise in den Lehrplänen und in der Gestaltung der Bildungseinrichtungen. Bei der Auswahl des Lehrpersonals sind Zuwanderinnen und Zuwanderer zu berücksichtigen.

3.

Alle Kinder müssen im vorschulischen Alter die Möglichkeit haben, die eigenen Fähigkeiten spielerisch zu entwickeln und insbesondere auch ihre Sprachfähigkeit zu entfalten. Die systematische Förderung der Kinder in diesem Alter verlangt die Einführung einer Bildungspflicht für Kinder ab dem 4. Lebensjahr. Zweisprachigkeit sowie das spielerische Erlernen einer ersten Fremdsprache sind zu erproben. Kindertagesstätten und Kindergärten sind so auszustatten, dass sie diese Bildungsaufgaben für alle Kinder erfüllen können. Die Ausbildung der Pädagoginnen und Pädagogen ist qualitativ zu verändern und eng mit der Ausbildung für den Grundschulbereich zu verbinden.

Insbesondere der Staat mit seiner Gesetzgebung, aber auch die gesellschaftlichen Gruppen und Einrichtungen haben dafür Sorge zu tragen, dass private Erziehungs- und Betreuungseinrichtungen staatliche Grundregeln für das Zusammenleben, wie z. B. das Toleranzgebot, den Gleichheitsgrundsatz und die Gleichstellung von Männern und Frauen beachten.

4.

Die Schule hat ihre Aufgabe, auf die Zivilgesellschaft vorzubereiten, aktiv wahrzunehmen. Chancengleichheit muss Bestandteil von Schulprogrammen werden.

Die gemeinsame Erziehung aller jungen Menschen einschließlich der Behinderten und die Anerkennung ihrer Verschiedenheit muss das Prinzip jeder pädagogischen Arbeit sein. Gute Schulen sind solche, deren Schülerinnen und Schüler hohe Leistungen erbringen, möglichst unabhängig von ihrer sozialen und kulturellen Herkunft. Die Offenheit der Schullaufbahn muss für die gesamte Schulzeit Geltung haben. Deshalb ist die Gesamtschule die angemessene Fortsetzung der Grundschule und das Herzstück von Chancengleichheit im Schulsystem. Schulen in sozialen Brennpunkten bedürfen einer besonders guten Ausstattung; sie sind zudem in die integrierte Stadtteilarbeit einzubeziehen.

Die Ganztagsschule bzw. die Schule mit ganztägigen Angeboten muss endlich eine für alle Eltern wahrnehmbare Möglichkeit werden. Neue Lernformen (z.B. soziale, ökologische Praktika), die Öffnung der Schule zur kommunalen Umwelt sowie verstärkte Berufsorientierung und Biografieplanung bewirken eine Veränderung der Schule insgesamt.

Multilingualität und die Vermittlung von Englisch als lingua franca (schon im Grundschulalter) sind wesentliche Beiträge zur Realisierung von Interkulturalität in der Schule.

5.

Die berufliche Bildung kann umso erfolgreicher sein, je besser und frühzeitiger die allgemein bildenden Schulen darauf vorbereiten. Die Gleichwertigkeit beruflicher Bildung mit dem Ausbildungsweg Gymnasiale Oberstufe/Hochschule ist durch ein System vielfältiger Maßnahmen herzustellen. Hochschulen müssen auch für Berufstätige sowie Bewerberinnen und Bewerber mit qualifizierter Berufsausbildung ohne formelle Hochschulzugangsberechtigung offen sein.

Mit der Gleichwertigkeit vollzeitschulischer und dualer betrieblicher Ausbildungswege sowie der engeren Verknüpfung berufstheoretischer und berufspraktischer Anteile können heute bestehende Benachteiligungen, insbesondere für Frauen, abgebaut werden. Die Kompetenzen, die in den personenbezogenen Dienstleistungsberufen erworben werden, sind als Schlüsselqualifikationen der Zukunft aufzuwerten. Dies ist besonders bei der Ausbildung der Ausbilderinnen und Ausbilder zu sichern.

Junge Menschen müssen über Beratung und Praktika bzw. Hospitationsangebote für zukunftsfähige Berufe gewonnen werden. Insbesondere ist der Zugang von Frauen zu technischen und informationstechnischen Berufen, der von Männern zu Sozial- und Pflegeberufen zu fördern.

6.

Die Ausbildungs- und Studienförderung muss neu geordnet und verbessert werden, so dass der Hochschulbesuch für Angehörige benachteiligter Gruppen mehr als bisher ermöglicht wird: Die Gesamtzahl der Geförderten sowie die Anteile der ostdeutschen Studienbewerber und -bewerberinnen sind zu erhöhen. Durch bundesweite Regelungen ist sicherzustellen, dass keine Studiengebühren für das Erststudium erhoben werden.

Die zu starre Abgrenzung zwischen Universitäten und Fachhochschulen ist durch Kooperationsmodelle und -verfahren schrittweise zu überwinden. Das Laufbahnrecht des öffentlichen Dienstes muss für alle Hochschulabschlüsse die gleiche Ausgangsbasis bieten.

Die Studienbedingungen müssen behindertengerecht sein; für ausländische Studierende ist eine spezifische Unterstützung anzubieten. Die Personalstruktur an den Hochschulen und anderen Wissenschaftseinrichtungen ist mit dem Ziel zu reformieren, die Selbständigkeit der Arbeit des wissenschaftlichen Nachwuchses zu sichern, die Positionen sowie Arbeitsbedingungen für alle Gruppen des wissenschaftlichen Personals zu verbessern, die Zahl der unbefristeten Stellen zu vermehren und den Frauenanteil auf allen Qualifikationsstufen zu erhöhen. Im internationalen Vergleich nicht übliche Qualifikationselemente wie die Habilitation müssen entfallen. Notwendig ist eine begleitende Förderung durch ein Bund-Länder-Programm, das die Einführung der Assistenz- oder Junior(innen)-Professur unterstützt und dabei insbesondere einen Beitrag zur Gleichstellung der Geschlechter leistet.

Im Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland ist ein Chancenausgleich für die ostdeutschen Wissenschaftsregionen durch den verstärkten Ausbau der Hochschulen und Forschungseinrichtungen in benachteiligten ostdeutschen Regionen notwendig.

Die Gründung privater Hochschulen und eine Beteiligung Privater an der Hochschulfinanzierung entheben den Staat nicht seiner Gesamtverantwortung dafür, einem wachsenden Anteil von jungen Menschen ein überregional ausgeglichenes Hochschulangebot zur Verfügung zu stellen. Hochschulen in privater Trägerschaft sind deshalb in das regionale und überregionale Studienangebot einzufügen; sie müssen grundsätzlich den Hochschul-Zugangsberechtigten offen stehen.

Die jetzt eingeführten, international üblichen Hochschulabschlüsse (Bachelor und Master) dürfen nicht zu einer Hierarchisierung der Hochschulen und des Studienangebots führen; im Rahmen von Akkreditierungsverfahren für Studiengänge mit neuen Abschlüssen ist einer weiteren Trennung und Abgrenzung zwischen Universitäts- und Fachhochschulangeboten entgegenzuwirken.

7.

In der Weiterbildung sind neue Formen der öffentlich geförderten Finanzierung erforderlich. Das System der Weiterbildung ist, unterstützt durch bundesrahmenrechtliche Vorgaben, auszubauen; dabei sind Qualitätsstandards und die Kooperation der Institutionen in Weiterbildungsverbünden zu sichern. Die personellen Kapazitäten im öffentlichen Weiterbildungsbereich müssen gestärkt werden. Durchlässigkeit von Erstausbildung und Weiterbildung ist durch Modularisierung herzustellen. Lernzeitansprüche müssen durchgesetzt werden.

Jeder Mensch hat das Recht auf Weiterbildung; die dafür erforderlichen Instrumentarien (Bildungsurlaub, Sabbatical etc.) sind zu verbessern und gesetzlich oder tarifvertraglich abzusichern. Die Möglichkeit, die erworbenen Qualifikationen und Kenntnisse aufzufrischen und zu erweitern, muss allen im Erwerbsleben Stehenden in regelmäßigen Zeitabständen eröffnet werden.

8.

Alle Menschen, unabhängig von Geschlecht, sozialer, kultureller und regionaler Herkunft oder körperlicher Behinderung, müssen die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien umfassend nutzen können. Eine Voraussetzung dafür bildet die Vermittlung von Medienkompetenz, d.h. die Fähigkeit, sich mit einer geschickten Navigation in der Fülle der Internet-Angebote zurechtfinden und Informationen gezielt suchen, finden und bewerten zu können.

Informationstechnische Ausbildungsgänge sind zu erneuern. Sie müssen ökologische, betriebs- und sozialwissenschaftliche Elemente umfassen und in neuen kooperativen und kommunikativen Lernformen vermittelt werden.

Informationstechnische Inhalte sind vor allem in die Ausbildung für jene Berufe zu integrieren, in denen heute noch vorwiegend Frauen tätig sind.

Internet-Anbieter haben die Zielgruppe Frauen und Mädchen angemessen zu berücksichtigen; dies erfordert frauenbezogene Angebote mit persönlichem und beruflichem Nutzen; bundesweite und dezentrale Frauenserver sind einzurichten.

Mädchenpraktika zur technischen Berufsfelderkundung sollen zum Regelangebot der allgemeinbildenden Schule gehören.

Zum Recht auf Bildung gehört heute das Recht auf ungehinderten Zugang zu den Kommunikationsnetzen. Der Staat hat dafür Sorge zu tragen, dass ein umfassendes öffentliches Internet-Angebot allgemein erreichbar ist und kostenlos zur Verfügung steht.

Die laufenden Kosten des Internetzugangs für Bildungseinrichtungen und Bibliotheken sind öffentlich zu tragen.

Alle Schulen und Schulformen, beginnend in der Grundschule, müssen nicht nur über Internet-Zugänge, sondern über ein ausreichendes Hard- und Software-Angebot zur Nutzung in jedem Klassenraum verfügen. Mittelfristig muss jede Schülerin und jeder Schüler mit einem eigenen Notebook lernen können. Der Einsatz der neuen Medien in allen Fächern verlangt eine umfassende Neuorientierung in der Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen- und Lehrern. Medienkompetenz erhält den Charakter einer Schlüsselqualifikation und damit einen zentralen Stellenwert in der Vermittlung für Lehrende und Lernende.

Die Hochschulen haben dafür zu sorgen, dass Multimedia-Angebote für Studierende allgemein zugänglich sind und inhaltlichen Mindeststandards entsprechen.

Die öffentlichen Weiterbildungseinrichtungen müssen umfassende Angebotsstrukturen zur informations- und kommunikationstechnischen Nachqualifizierung Erwachsener bereitstellen.

Informationstechnische Anwendungen müssen sich nutzungsgerecht, qualitätsorientiert und effizient in bestehende Arbeitsabläufe einpassen.


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Zur Potsdamer Erklärung 1949 - 1969 - 1989 - 1999 ...

Die Maßstäbe für die Beurteilung der Herstellung von Chancengleichheit knüpfen an die Grundrechte des Grundgesetzes an, das 1949 für Westdeutschland, mit der Herstellung der deutschen Einheit 1990 für ganz Deutschland unmittelbar geltendes Recht wurde. Die friedliche Revolution der DDR-Bevölkerung von 1989 und 1990 hat dafür die Voraussetzungen geschaffen.

Die ersten zwanzig Jahre der Nachkriegszeit wurden im westdeutschen Bildungswesen überwiegend durch eine Restauration der Weimarer Verhältnisse geprägt. Beispiele sind hierfür der Wiederaufbau des herkömmlichen dreigliedrigen Schulwesens mit Volksschule, Realschule und Gymnasium oder der alten Ordinarienuniversität. Nur in einzelnen Ländern gab es Ansätze für Reformen, etwa die acht-, dann die sechsjährige Grundschule oder die Mitbestimmung an der Freien Universität in Berlin.

1969 hatte die Bildungsreformbewegung der 60er Jahre in Westdeutschland breite Anerkennung erreicht. Ein umfassender Reformansatz und Chancengleichheit als Leitziel waren Grundlagen der Regierungspolitik für das Bildungswesen auf der Bundes- und überwiegend ebenso auf der Landesebene. Bereits in der ersten Hälfte der 60-er Jahre ist der Anteil der Abiturientinnen und Abiturienten am jeweiligen Altersjahrgang in Westdeutschland schrittweise erhöht worden. Die Bildungseinrichtungen wurden ausgebaut. Neue Modelle, wie die Fachhochschule, die Gesamtschule oder die Gesamthochschule, gaben wegweisende Reformanstöße. Auf der Bundesebene schufen dafür, auf der Grundlage einer 1969 erfolgten Verfassungsänderung, neue Bundesgesetze Rahmenvoraussetzungen. Dazu gehören u.a. das Bundesausbildungsförderungsgesetz, das Hochschulrahmengesetz oder das Hochschulbauförderungsgesetz des Bundes.

Entscheidende Neuregelungen zur tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern wurden nach 1969 auf den Weg gebracht. Das Erste Eherechtsreformgesetz von 1977 hob in Westdeutschland beispielsweise die Regelung des Bürgerlichen Gesetzbuches auf, wonach die Frau nur dann erwerbstätig sein durfte, wenn dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar war. Seitdem sind nach § 1356 des Bürgerlichen Gesetzbuches beide Ehegatten berechtigt, erwerbstätig zu sein.

Die Gleichberechtigung der Frauen und die Teilhabe junger Mädchen an einer qualifizierten Bildung wurden in den siebziger Jahren zu wesentlichen Politikzielen in Westdeutschland. Der Europäische Gerichtshof und das Europäische Parlament gaben wichtige Anstöße zur Weiterentwicklung der Gleichstellungspolitik. Mit der Erweiterung des Gleichberechtigungsartikels des Grundgesetzes im Jahre 1994 wurde der Staat in die Pflicht genommen, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken.

Mit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages ist durch die Europäische Union ein neues Kapitel im Bemühen um die Herstellung von Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern aufgeschlagen worden. Die Mitgliedstaaten sind durch den Vertrag zu einer aktiven Gleichstellungspolitik nach dem Prinzip des Gender-Mainstreaming verpflichtet worden.

Die Reformansätze in Westdeutschland wurden nicht auf allen Gebieten erfolgreich abgeschlossen. Fehlentwicklungen sowie politische und gesellschaftliche Widerstände führten zum Scheitern wichtiger Erneuerungsprojekte. Nach wie vor bestehen beträchtliche Defizite bei der Verwirklichung von Chancengleichheit. Geschlecht und soziale Herkunft sind z.B. immer noch Diskriminierungsmerkmale im Bildungswesen.

Die Bilanz zeigt aber ebenso unbestreitbare Erfolge. Die Bildungsexpansion, die Öffnung des Hochschulzugangs sowie Strukturreformen in Schulen und Hochschulen stehen dafür als Beispiele.

Seit 1989, dem Jahr der Wende, hat der Anspruch auf Chancengleichheit eine weitere, neue Dimension im innerdeutschen Ausgleich erhalten. In Bildung und Wissenschaft bestehen über zehn Jahre nach der Wende noch immer große Unterschiede zwischen Ost und West. Die Möglichkeiten zur Förderung und Erneuerung der ostdeutschen Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen und zur Reform des Bildungs- und Wissenschaftssystems in ganz Deutschland wurden bis 1999 nicht in ausreichendem Umfang genutzt.

Die Politik wird sich in den kommenden Jahren auf allen Ebenen den eingangs beschriebenen und zugleich weiteren neuen Herausforderungen stellen müssen. Sie wird daran gemessen werden, ob und inwieweit es ihr gelingt, mehr Chancengleichheit in Deutschland zu verwirklichen und dafür auch eine Perspektive in der Europäischen Union zu eröffnen.


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©
Gesellschaft Chancengleichheit e.V.
Postfach 601661,
14416 Potsdam
eMail: chancengleichheit@t-online.de
v. i. S. d. P.: Holger H. Lührig