EIN POSITIONSPAPIER von Dr. Joachim Lohmann : Ein 10./11. Schuljahr für die Corona-Generation

11. März 2021 // ticker

(zwd Berlin). Mit einem Thesenpapier hat der Bildungsexperte Dr. Joachim Lohmann die Kultusverwaltungen aufgefordert, die Corona-Krise für eine bildungspolitische Neujustierung zu nutzen, statt mit Notmaßnahmen einen scheinbar geordneten Schulbetrieb zu suggerieren. Seinen ausführlichen Beitrag können Sie unter www.chancengleichheit.de lesen. Der Debattenbeitrag ist Teil der Vorbereitungen auf die geplante Virtuelle Konferenz der Gesellschaft Chancengleichheit (GesCh) über Bildungsgerechtigkeit.

1. Die Pandemie macht die Jugend zur Corona-Generation – die Jugend insgesamt und diese für ihr Leben lang. Die Jugend ist nicht nur durch den Schulausfall, sondern sie ist 3-fach gebeutelt durch:

  • einen weitgehenden Unterrichtsausfall für mindestens ein Schulhalbjahr,
  • einen verschärften Rückgang der Ausbildungsplätze und
  • einen blockierten Berufseinstieg.

In der Öffentlichkeit stehen die Schulschließungen im Vordergrund.

  • Verhängnisvoll ist der Einbruch bei den Ausbildungsplätzen: noch längeres, jahrelanges, teils ergebnisloses Warten auf einen Ausbildungsplatz, um sich schließlich – hoffentlich – mit einem wenig attraktiven Ausbildungsberuf abzufinden.
  • Mindestens gleichbelastend ist der Einstellungsrückgang: endlich ausgebildet, zukunftsgewandt und dann die Gefahr des ergebnislosen Wartens, der Erwerbslosigkeit, des Sich-Abfindens mit einem bescheideneren Berufseinstieg.

2. Der Bund – auch die Bundesländer – sind tätig geworden; sie werden jedoch der Corona- Generation nicht gerecht:

  • Die Digitalisierung der Schule beginnt endlich, aber zu spät und läuft unkoordiniert. Sie fängt den Ausfall des Präsenzunterrichts weder auf noch holt sie ihn später ein.
  • Trotz der Bundeszuschüsse ist das Angebot an Ausbildungsplätzen so stark wie noch nie innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte weiter zurückgegangen.
  • Konjunkturell ist der Übergang in eine qualifizierte Beschäftigung bedroht, denn die Arbeitslosigkeit steigt, sehr viele Werktätige arbeiten kurz oder sind unterbeschäftigt.

3. Sinnvolle Aktionen sollten nicht reine Notmaßnahmen, sondern zugleich strukturelle Verbesserungen sein. Am überzeugendsten ist für jede weiterführende Schule

  • die schrittweise Einführung des 10. wie 11. Schuljahres,
  • der Erwerb aller Abschlüsse und Berechtigungen
  • die Durchsetzung einer flexiblen Ausgangsphase sowie
  • die Öffnung der Fachschulen und der Hochschulen für alle Ausbildungsabschlüsse ohne Zusatzauflagen.

4. Statt Notmaßnahmen: die Bildungschancen mit einem 10. und 11. Schuljahr verbessern und das Klassengefälle der Allgemeinbildung abbauen

  • Die 3-Klassenstruktur einer minimalen, mittleren und privilegierten Allgemeinbildung beeinträchtigt die Schwächsten und gefährdet den Zusammenhalt von Gesellschaft und Staat. Eine gemeinsame 12/13-jährige Allgemeinbildung ist längerfristig unabdingbar.
  • Ein 10. Schuljahr jetzt für die Corona-Jugend würde die Bildungsschwächs-ten nicht noch stärker bei Bildung, Abschluss und Ausbildung diskriminieren. Förderschüler*innen erhielten die Chance auf einen Hauptschul- und die Hauptschüler*innen auf einen mittleren Abschluss.
  • Ein 11. Schuljahr würde alle Nichtabiturienten aufwerten: Sie könnten ihre Abschlusszeugnisse verbessern und höhere Abschlüsse erwerben. Die Realschüler*innen könnten noch zusätzlich die Oberstufenberechtigung erhalten und für die Oberstufe und die Hochschulreife gewonnen werden.

5. Statt Warteschleifen: mehr Ausbildungsmöglichkeiten eröffnen und die Berufsausbildung an den Hochschulbereich heranführen.

Die Klassenspaltung in eine berufliche und akademische Ausbildung wird der Wirtschaftsdynamik nicht mehr gerecht und ist wesentlicher Grund für die sozio-ökonomische Ungleichheit. Die Pandemie verschärft den Rückgang an vermittelten Ausbildungsplätzen und gefährdet die Ausbildung der Abschlussschwächsten.

Ein 10. und 11. Schuljahr

  • verringert die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen während der Einführungsphase,
  • verbessert die Chance auf einen Ausbildungsplatz,
  • erweitert die Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten und
  • hebt das Einstellungsniveau bei der dualen Berufsausbildung und führt diese näher an den Hochschulbereich heran.

6. Statt drohender Erwerbslosigkeit: die Fach- und Hochschulen für Weiterbildung öffnen

Die Pandemie hat die Digitalisierung – die 4. Industrielle Revolution – massiv beschleunigt. Der Umsturz des Arbeitsmarktes - noch gestützt durch die Bundesmaßnahmen – hat schon jetzt zu unbekannt hoher Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und Unterbeschäftigung geführt. Trotz des erwarteten Konjunkturaufschwunges ist die Einstellung von Ausgebildeten für Jahre erheblich gefährdet.

Statt drohender Erwerbslosigkeit sollte aus der postulierten formalen Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung eine faktische Gleichheit werden: Ein Berufsabschluss sollte zum auflagenlosen, direkten Besuch von Fachschulen und Hochschulen berechtigen. Ergänzende Anforderungen an Zeugnisse, an Zusatznachweise und an mehrjährige Berufstätigkeit sollten entfallen.

7. Trotz des Lehrkräftemangels: die Politik ist gefordert

Der stärkste Einwand gegen ein 10./11. Schuljahr ist der Lehrkräftemangel. Er ist ein zweifaches strukturelles, fast durchgängiges Problem des Föderalismus. Einerseits hat die Lehrerbildung nicht überall eine hohe Priorität in der Hochschulpolitik, andererseits erschweren bildungspolitische Konfrontation und drohender Regierungswechsel langfristige Planungen. Bildungspolitische Strukturreformen sind auf Improvisationen angewiesen.

Das Ende der Einschränkungen des Präsenzunterrichts sollte der Startpunkt für das 10./11. Schuljahr sein. Die improvisierte Unterrichtsversorgung während der Pandemie sollte danach für die Schulzeitverlängerung genutzt und zusätzlich Studenten für den Unterricht gewonnen werden, wie es z.B. die Juso-Vorsitzende Jessica Rosenthal vorgeschlagen hat.

Die Langfassung des Beitrages von Joachim Lohmann können Sie hier herunterladen.

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